Um 17.40 Uhr trat laut Lagebericht der Krisenstab zusammen. Roselieb: „Es ist nicht zu begründen, warum die Frage nach dem Katastrophenalarm da nicht ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt worden ist.“ Aber wann darf ein Landrat überhaupt die höchste Eskalationsstufe ausrufen? Die Kriterien sind im Rahmen-, Alarm- und Einsatzplan (RAEG) Hochwasser des Landes Rheinland-Pfalz von 2020 geregelt, den laut Roselieb jeder Landrat auf dem Schreibtisch haben muss. „Alarmstufe fünf ist auszulösen, wenn feststeht oder zu vermuten ist, dass die Gefahrenlage das Tätigwerden eines Führungsstabes Katastrophenschutz Landkreis/kreisfreie Stadt erfordert“, heißt es dort in etwas schwammigem Beamtendeutsch. Die Entscheidung trifft der Landrat oder der Oberbürgermeister einer Stadt. „Die haben dann durchaus Spielraum“, betont Roselieb.
Der Schritt hätte weitreichende Folgen gehabt. Etwa die Evakuierung von Teilen der Bevölkerung. Davor schreckte Jürgen Pföhler offenbar am späten Nachmittag noch zurück. Hätten ihm denn Konsequenzen gedroht, wenn sich die prognostizierte Flut am Ende doch als normales Hochwasser herausgestellt hätte? Nein, sagt Krisenforscher Roselieb. „Ich kenne keinen Landrat, der verurteilt worden ist, weil er zu früh ausgelöst hätte.“ Es hätte dann auch rechtzeitig Warnungen im Radio gegeben. „Das wäre dann so wie die Meldung vor einem Geisterfahrer: unüberhörbar und in Dauerschleife“, erklärt Roselieb. Und zwar mit eindeutigen Hinweisen auf die Gefahren des Hochwassers mit klaren Handlungsanweisungen.
Im Exklusiv-Interview mit unserer Zeitung vor mehr als einer Woche hatte Landrat Pföhler sein langes Zögern damit begründet, dass es eine zwischenzeitliche Entwarnung des Deutschen Wetterdienstes gegeben habe. Demnach sei mit einem Sinken des Pegelstands Altenahr von fünf auf vier Meter zu rechnen gewesen. Das hat der DWD tatsächlich bestätigt, aber schnell wieder korrigiert, wie wir recherchiert haben. „Die Begründung des Landrats ist lächerlich“, sagt Roselieb. Alle Daten hätten nur wenig später auf ein deutliches Ansteigen der Ahr gedeutet. Tatsache ist: Schon um 20.15 Uhr wusste man im Ahrweiler Krisenstab, dass der Pegelstand in Altenahr bei 5,09 Metern lag, wie aus dem Lagebericht hervorgeht. Versehen mit dem Vermerk: „steigend“.
Roselieb zerpflückt auch Pföhlers Aussage gegenüber dem Bonner „General-Anzeiger“ vom Sonntag, dass zurzeit „niemand im Bund, im Land oder im Kreis seriös die Fragen nach Verantwortlichkeiten beantworten“ könne. Das stimme so nicht. Denn bei jedem Hochwasser von Alarmstufe zwei von fünf müsse ein Einsatztagebuch geführt werden, in dem alle Entscheidungen minutiös protokolliert würden. „Das ist quasi wie der Flugschreiber, der Auskunft über den Hergang des Absturzes gibt. Damit hätte der Landrat Vorwürfe gegen sich widerlegen können“, sagt Roselieb. Oder auch nicht. „Dass er das Einsatztagebuch auch nach mehr als zwei Wochen immer noch nicht veröffentlicht hat, gibt zu denken.“ Für den Krisenexperten ist auch nicht nachvollziehbar, warum Landrat Pföhler nicht endlich öffentlich Rede und Antwort steht. „Es gibt keinen Grund, sich nicht mal zwei Stunden vor die Presse zu stellen.“
So bleiben viele Fragen offen. Ab welchem Pegelstand sollte laut Plan eigentlich evakuiert werden? Gab es überhaupt einen Plan? Und warum befanden sich laut Lagebericht des Kreises Ahrweiler am frühen Abend trotz Warnstufe vier immer noch Menschen auf der Campinganlage Stahlhütte in der Ortslage Dorsel und in „weiteren Anlagen an der Ahr“, die von Strömungsrettern der DLRG Andernach und der Tauchergruppe Lahnstein/Koblenz von den Dächern ihrer Campingwagen gerettet werden mussten? Dabei sieht das Handbuch RAEG Hochwasser doch schon bei Warnstufe zwei eine „Mithilfe bei der Räumung von Campingplätzen“ vor.
Und wie kann es sein, dass zwölf hilfsbedürftige Menschen der Lebenshilfe Sinzig in der Nacht qualvoll ertranken, obwohl schon Warnstufe drei, die am 14. Juli angesichts der dramatischen Lage übersprungen worden ist, die „Unterstützung hilfsbedürftiger Personen bei der Räumung von gefährdeten Wohnungen“ vorschreibt?
Ein Blick ins Einsatztagebuch könnte Erklärungen liefern. Auf eine Anfrage unserer Zeitung verweist die Kreisverwaltung Ahrweiler auf die inzwischen laufenden Prüfungen der Staatsanwaltschaft Koblenz: Derzeit könne man keine Stellungnahme abgeben. „Das Ergebnis dieser Prüfungen bleibt abzuwarten.“
Damit lässt sich auch nicht mehr rekonstruieren, was sich im Krisenstab abspielte, bevor um 23.09 Uhr der Katastrophenfall ausgerufen wurde und ein Streifen von 50 Metern rechts und links der Ahr evakuiert werden sollte. Zu diesem Zeitpunkt war es dazu bekanntlich viel zu spät. Rettungskräfte konnten nicht mehr in die Todeszone vordringen. Zumal die Wassermassen in der Zwischenzeit auch alles zermalmt hatten, was sich ihnen 200 Meter vom Flussbett entfernt in den Weg stellte. Viele Anwohner wurden im Schlaf von der Flutwelle überrascht. Mindestens 138 Menschen haben diese Horrornacht nicht überlebt.
Roselieb ist überzeugt, dass viele Opfer hätten verhindert werden können. Warum ließ der Krisenstab kostbare Stunden verstreichen? Warum wurde nicht spätestens um 20.45 Uhr die höchste Alarmstufe ausgerufen, als der Pegelstand bei Altenahr schon fast bei sechs Metern lag und ein Anstieg auf sieben Meter prognostiziert wurde? Noch war es hell. Und die Menschen lagen noch nicht in ihren Betten. Auch Krisenforscher Roselieb hat dafür keinerlei Erklärung. Antworten könnte nur das Einsatztagebuch liefern. Oder die Mitglieder des Krisenstabs um Landrat Pföhler. Aber die schweigen seit mehr als zwei Wochen. Dirk Eberz