Berlin

Bundestag und Bundesrat

Start in der Turnhalle: Der Bundestag wird 75

Von dpa
Der Bundestag wird 75
Eine der Flaggen auf dem Reichstag leuchtet bei starkem Wind wehend vor der Kulisse von dunklen Regenwolken. (zu dpa: «Start in der Turnhalle: Der Bundestag wird 75») Foto: Soeren Stache/DPA

Vor 75 Jahren wurde in Bonn Geschichte geschrieben: Erstmals trat der Bundestag, das Parlament der gerade neu gegründeten Bundesrepublik zusammen. Ein anderes Verfassungsorgan war jedoch schneller.

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Berlin (dpa). Exakt 4.527 Plenarsitzungen, 8.977 verabschiedete Gesetze, 173.043 Drucksachen – die Geschichte des Deutschen Bundestags ließe sich auch anhand solcher Zahlen erzählen, die die Bundestagsverwaltung gerade penibel zusammengetragen hat. Und dann wären da noch: 2.524 namentliche Abstimmungen, 31.610 Stunden Gesamtsitzungszeit, 177.813 gehaltene Reden. An diesem Samstag vor genau 75 Jahren trat der Bundestag zu seiner ersten Sitzung zusammen.

Parlamentarischer Neuanfang nach dem Zusammenbruch

Dieser 7. September 1949 markierte den parlamentarischen Neuanfang nach dem Zusammenbruch Hitler-Deutschlands, den die Alliierten militärisch erkämpft hatten. Das Land lag in Trümmern, materiell wie moralisch. Es war in West und Ost geteilt. Zehntausende ehemalige Wehrmachtsoldaten befanden sich gut vier Jahre nach der Kapitulation noch immer in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.

Konstituierende Sitzung des Bundestages 1949
Alterspräsident Paul Löbe (M), spricht während der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages in der einstigen Turnhalle der Pädagogischen Akademie, die zuvor zum Plenarsaal umgebaut worden war. Eingeleitet wurde die Sitzung mit Beethovens festlicher Ouvertüre «Weihe des Hauses», bevor Löbe das Wort ergriff. Erstmals seitdem die Nationalsozialisten mit dem Ermächtigungsgesetz im März 1933 den Reichstag ausgehebelt hatten, nahm wieder ein frei gewähltes Parlament seine Arbeit auf. (zu dpa: «Start in der Turnhalle: Der Bundestag wird 75»)
Foto: Bundesbildstelle/DPA

Provisorisch wie ganz Deutschland war auch die erste Sitzung des am 14. August 1949 gewählten Bundestags: Die Abgeordneten kamen in Bonn in der einstigen Turnhalle der Pädagogischen Akademie zusammen, die zuvor zum Plenarsaal umgebaut worden war. «Was erhofft sich das deutsche Volk von der Arbeit des Bundestags?», fragte Alterspräsident Paul Löbe bei der Eröffnung der Sitzung und gab auch gleich selbst die Antwort: «Dass wir eine stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft, eine neue soziale Ordnung in einem gesicherten Privatleben aufrichten, unser Vaterland einer neuen Blüte und neuem Wohlstand entgegenführen.»

Bundesrat schneller als der Bundestag

Konstituierende Sitzung des Bundesrates 1949
Am Vormittag tagt zum ersten Mal der Deutsche Bundesrat. Die Ratsmitglieder wählten den CDU-Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, zum Ratspräsidenten. Am Nachmittag desselben Tages trat erstmals der Deutsche Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. (zu dpa: «Start in der Turnhalle: Der Bundestag wird 75»)
Foto: dpa/DPA

Als der Bundestag an diesem 7. September um 16.05 Uhr zusammentrat, hatte der Bundesrat seine erste Sitzung schon hinter sich. Die Länderkammer nahm ihre Arbeit um 11.12 Uhr auf – ebenfalls im Provisorium Pädagogische Akademie, aber nicht in der früheren Turnhalle, sondern in der einstigen Aula. Und während im Bundestag Beethoven zur Eröffnung der Sitzung gespielt wurde, war es im Bundesrat Bach. Der Bundestag als Gesetzgeber, der Bundesrat als Instrument zur Wahrung der Länderinteressen und ein Stück weit auch als Korrektiv – so hatten die Mütter und Väter des Grundgesetzes die föderale Ordnung des neuen Staates festgelegt.

Große Redeschlachten zu zentralen Zukunftsfragen

Einzug der Grünen in den Bundestag 1983
Erste Kontakte zwischen den Fraktionen während der Konstituierenden Sitzung am 29.3.1983 im Bonner Bundestag\ FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher im Gespräch mit den Grünen-Abgeordneten Marie-Louise Beck-Oberdorf (r, Sprecherin) und Waltraud Schoppe (Rückansicht). Links neben ihnen steht der Grünen-Abgeordnete Eckhard Stratmann hinter einer blumengeschmückten Fotografie der südafrikanischen Freiheitskämpferin Winnie Mandela. (zu dpa: «Start in der Turnhalle: Der Bundestag wird 75»)
Foto: Jörg Schmitt/DPA

75 Jahre Bundestag – das bedeutet viel parlamentarische Kleinarbeit, aber auch immer wieder große Debatten zu Schlüssel- und Richtungsfragen der Republik. So erlebte das Parlament im Februar 1952 eine 20-stündige Redeschlacht zur Wiederbewaffnung Deutschlands. Sogar 22 Stunden dauerte das parlamentarische Gefecht um die Ostverträge im Februar 1972. Hitzige Debatten wurden 1968 zur Verabschiedung der Notfallgesetze, 1974 zur Reform des Abtreibungsparagrafen 218, 1981 zum Nato-Doppelbeschluss oder 1990 zum Einigungsvertrag geführt.

Regierungsumzug Bonn – Berlin
ARCHIV – Blick in das Plenum des Deutschen Bundestages während der Rede des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl am 1.7.1999 in Bonn. Mit einer Debatte unter dem Motto „50 Jahre Demokratie – Dank an Bonn“ nahm der Deutsche Bundestag nach fast einem halben Jahrhundert endgültig Abschied von Bonn. Foto\ Michael Jung dpa/lbn +++(c) dpa – Bildfunk+++ (zu dpa: «Start in der Turnhalle: Der Bundestag wird 75»)
Foto: picture alliance/DPA

Sternstunden erlebte der Bundestag aber gerade auch bei leise geführten Debatten über wichtige gesellschaftspolitische Fragen wie beim Ringen um die Präimplantationsdiagnostik 2011 oder um die Sterbehilfe 2015 und 2023. Und nicht immer mussten sich Beratungen bis in tiefe Nacht ziehen, um als wichtig in die Parlamentsgeschichte einzugehen. Als der Bundestag am 27. Februar 2022, einem Sonntag, zu einer Sondersitzung wegen des Überfalls Russlands auf die Ukraine drei Tage zuvor zusammenkam und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Begriff der «Zeitenwende» prägte, dauerte die Debatte dreieinhalb Stunden.

Umzug von Bonn nach Berlin

Regierungsumzug Bonn – Berlin
ARCHIV – Blick in den Plenarsaal des Berliner Reichstagsgebäudes während der Eröffnungsrede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse am 19.4.1999. Das historische Bauwerk wurde am 19. April offiziell an den Deutschen Bundestag übergeben. Foto\ Michael Jung dpa/lbn +++(c) dpa – Bildfunk+++ (zu dpa: «Start in der Turnhalle: Der Bundestag wird 75»)
Foto: picture alliance/DPA

Tatsächlich bis tief in die Nacht ging eine folgenschwere Sitzung am 20. Juni 1991. Der Bundestag beriet fast zwölf Stunden lang über den künftigen Sitz von Parlament und Regierung. Um 21.47 Uhr verkündete Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) das knappe Votum für den Umzug nach Berlin. Dieser wurde auch zu einer logistischen Herausforderung: In 24 Zügen rollten 50.000 Kubikmeter Möbel von der alten in die neue Hauptstadt. Am 1. September 1999 nahmen Bundestag und Bundesregierung offiziell die Arbeit in Berlin auf.

Rein und raus im Parlament

Herbert Wehner im Bundestag
Das Archivbild vom 11.05.1973 zeigt den SPD-Fraktionsführer Herbert Wehner während einer temperamentvollen Debatte am Rednerpult im Bundestag. Links von ihm sitzt Bundeskanzler Willy Brandt. Das Parlament kommt am Donnerstag (01.07.1999) zur letzten Sitzung in Bonn zusammen. Wehner hat sich als einsamer Spitzenreiter auf der nun endgültigen Bonner Parlaments-Schimpfliste verewigt. Er brachte es auf 58 Ordnungsrufe in Bonn. dpa (nur s/w – zu dpa 4018 vom 30.06.1999) (zu dpa: «Start in der Turnhalle: Der Bundestag wird 75»)
Foto: picture-alliance/DPA

In seinen 75 Jahren sah der Bundestag mehrere Parteien kommen und gehen. 1983 zogen die Grünen ein, 1990 die PDS (heute Linke), 2013 flog die FDP raus, 2017 kam sie zurück. Bei der Wahl 2017 schaffte es auch die AfD erstmals in den Bundestag. Ein Novum erlebte dieser im Dezember 2023: Die Linksfraktion löste sich auf, nachdem Sahra Wagenknecht und neun andere Abgeordnete aus der Partei ausgetreten waren. Heute sitzen die Linke und das BSW als Gruppen mit stark eingeschränkten Rechten im Parlament.

Leidenschaft, Härte und verbale Entgleisungen

Der Bundestag war von Anfang an ein Parlament, in dem mit Leidenschaft und bisweilen auch mit Härte um den richtigen politischen Weg gerungen wurde – verbale Entgleisungen eingeschlossen. Schon Alterspräsident Löbe appellierte bei der Eröffnung der ersten Sitzung an die Abgeordneten, nach einem «erbitterten Wahlkampf» wieder zu Maß und Mitte zu finden: «Es braucht nicht niederreißende Polemik, sondern aufbauende Tat.» Man müsse so weit zusammenfinden, «dass Ersprießliches für unser Volk daraus erwächst».

Als Bärbel Bas (SPD) in der ersten Sitzung der laufenden Wahlperiode am 26. Oktober 2021 zur Bundestagspräsidentin gewählt war, mahnt sie in ihrer ersten Rede «Respekt» und einen «angemessenen Ton» an. «Wir haben eine Vorbildfunktion. Jede und jeder Einzelne von uns steht für „die Politik“ und damit in der Pflicht, den Deutschen Bundestag würdig zu vertreten.»

Angemessen war der Ton jedoch schon in der Frühzeit des Bundestags nicht immer. Ein Meister der Polemik war der frühere SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, der Kontrahenten schon mal «Schwein», «Schleimer» oder «Dreckschleuder» nannte und dafür Ordnungsrufe kassierte. Seit 1949 wurden davon 783 erteilt.

Unvorstellbar aber war bis zum Einzug der AfD, dass im Plenum über «Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse» schwadroniert wurde, wie dies AfD-Fraktionschefin Alice Weidel im Mai 2018 tat. Auch dafür erhielt sie einen Ordnungsruf. Die AfD, da sind sich die anderen Fraktionen einig, zeichnet für eine erhebliche Verschärfung der Debatten verantwortlich.

Zu wenige Frauen und immer mehr Abgeordnete

Dass der Frauenanteil mit gegenwärtig rund 35 Prozent nach wie vor niedrig und von Parität weit entfernt ist, ist eine der Schwächen des Bundestags. Dass das Parlament bei den vergangenen Wahlen immer größer wurde, ist eine andere. Bei der Wahl 2021 schwoll es auf 736 Abgeordnete an – das größte frei gewählte Parlament der Welt. Aber Abhilfe ist in Sicht: Durch die Wahlrechtsreform der Ampel-Parteien wird der nächste Bundestag, der im kommenden Jahr gewählt wird, nur noch 630 Mandate zählen.

Bundestag und Bundesrat feiern

75 Jahre – das will gefeiert werden. Der Bundestag wird an diesem Freitag und Samstag seinen «Tag der Ein- und Ausblicke», wie er den jährlichen Tag der offenen Tür nennt, ganz ins Zeichen seines Jubiläums stellen. Am kommenden Dienstag soll es vor Beginn der Haushaltsdebatte im Plenarsaal eine Gedenkveranstaltung zur Konstituierung des Parlaments vor 75 Jahren geben.

Und der Bundesrat will am Samstag für einen Festakt an seine alte Bonner Wirkungsstätte zurückkehren. Daran teilnehmen wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dessen Amt in diesen Tagen auch 75 Jahre alt wird. Denn am 12. September 1949 wählte die Bundesversammlung Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten.

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