Die Expertinnen und Experten müssen im Gespräch mit Rettungsdiensten, Ärzten, Pflegern und Bürgern ständig Risiken bewerten und entscheiden, was getan werden muss. Damit verhindern sie viele Bagatelleinsätze der Rettungsdienste – können aber auch immer wieder aufgeregte Anrufer beruhigen, wie GIZ-Leiter Andreas Stürer berichtet. Dabei stößt die Einrichtung allerdings auch an Grenzen.
Zahl der Anrufe stark gestiegen
So ist die Zahl der Anrufe in der für Rheinland-Pfalz, Hessen und – seit April 2021 – auch für das Saarland zuständigen Fachstelle in den vergangenen Jahren so stark gestiegen, dass mancher bis zu 20 Minuten in der Leitung warten muss, wie Stürer sagt. „Das kann, etwa bei einer verschluckten Knopfzellen-Batterie, zu erheblichen Schäden beim Kleinkind führen“, betont der klinische Toxikologe, Internist und Notfallmediziner.
Besonders heikel kann es Stürer zufolge auch sein, wenn Kinder frei herumliegende Medikamente, etwa ihrer Großeltern, schlucken. Bei der kostenlosen Telefonberatung werde dann immer vom Worst-Case-Szenario (dem schlechtesten Fall) ausgegangen. Um welche maximale Menge kann es gehen? Wie schnell muss das Kind ins Krankenhaus? Wann ist die Begleitung eines Notarztes notwendig?
Vor allem Ältere sind gefährdet
Mögliche Vergiftungen von Kindern machen etwa die Hälfte der Anrufe aus, sagt Stürer. „In den anderen Fällen geht es um Erwachsene, und hier sind vor allem ältere Menschen gefährdet, die im Rahmen von Verwirrtheitszuständen oder bei Demenz ihre Medikamente verwechseln oder sogar ganze Shampoo-Flaschen austrinken.“ Die Beratung kann sehr aufwendig sein, weil viele unter einer Reihe von Krankheiten litten und ganz unterschiedliche Arzneimittel nehmen müssten. Zum Thema Verwechslung von Medikamenten nehmen auch die Anrufe von überlastetem Personal aus Altenheimen und Krankenhäusern zu. Manchmal hat auch ein Patient die Medizin seines Bettennachbarn genommen, schildert der Experte.
„Es gibt insgesamt viel weniger schwere und tödliche Vergiftungsfälle als früher“, sagt Stürer, der seit 19 Jahren auch Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft für Klinische Toxikologie ist. Ursachen seien unter anderem das Verbot gefährlicher Pflanzenschutzmittel sowie ungefährlichere Inhaltsstoffe in Reinigungsmitteln und Medikamenten. „Andererseits nimmt die Zahl der Notrufe deutlich zu“, sagte Stürer. Ein Grund dafür sei die Entfremdung vieler Menschen von der Natur und damit auch von dem Wissen über giftige Pflanzenteile. „Einen Lamellen- von einem Röhrenpilz kann heute kaum noch einer unterscheiden.“ Dazu kommen unklare und zum Teil widersprüchliche Informationen aus dem Internet. Auch ein höheres Sicherheitsbedürfnis der Menschen spielt vermutlich eine Rolle.
„Auch ohne große Schadenslagen wie Chemieunfälle oder öffentlich bekannte kriminelle Aktivitäten kommt es regelmäßig zu starker Überlastung aller GIZ“, stellt die Kommission des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) zu Bewertung von Vergiftungen fest.
Die meisten Mitarbeiter des GIZ sind Mediziner
Die Giftnotrufe sind auch bekannter geworden, nennt Stürer einen weiteren Grund. Fast 52.600 Anrufe sind 2022 beim GIZ in Mainz eingegangen, noch einmal 2 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Beratungen ging leicht zurück auf rund 39.400. Insgesamt hatten die Berater es mit fast 35 100 Fällen zu tun. Und längst nicht alle kamen durch: Seit einigen Jahren ist die Zahl der eingehenden Anrufe deutlich höher als die der Beratungen.
„Es war ein Riesenglück, dass der Notruf nach der Giftattacke an der Technischen Universität Darmstadt am 23. August 2021 bei uns in relativ kurzer Zeit durchgekommen ist“, sagt Stürer. „Obwohl die Lage völlig unklar war, konnte der Kollege – ein Chemiker – anhand des Toxidroms (Beschwerdebild) die richtige Wirkstoffgruppe für das passende Gegengift finden.“ Sieben Menschen hatten die Chemikalien beim Kaffee- und Teetrinken geschluckt, einer von ihnen war kurzzeitig in Lebensgefahr. Das Landgericht Darmstadt verurteilte die 33 Jahre alte Täterin zur Unterbringung in einer geschlossenen Psychiatrie.
Die meisten Mitarbeiter des GIZ sind Mediziner, aber auch der Chemiker und eine Apothekerin gehören dazu. „Die Einarbeitungszeit dauert wegen der extrem großen Zahl an unterschiedlichen Produkten, Wirkstoffen und Chemikalien mindestens ein halbes Jahr“, sagt Stürer. „Das Basiswissen ist nach circa zwei Jahren so gut, dass sie die allermeisten Fälle selbstständig beraten können.“ In Zweifelsfällen seien er oder sein Stellvertreter rund um die Uhr erreichbar.
Bei einer Bedarfsrechnung Ende der 1990er-Jahre wurden für damals rund 20.000 Beratungen 8,5 Vollzeitstellen im Giftnotruf kalkuliert, wie Stürer sagt. Derzeit stünden aber nur 7,4 Stellen für die Beratung zur Verfügung. „Wir bräuchten mindestens drei Stellen mehr, um das Pensum der Anfragen bewältigen zu können.“ Mit dem GIZ könne auch viel Geld im Gesundheitswesen gespart werden, betont der Fachmann. „Ein überflüssiger Rettungsdiensteinsatz ist etwa mindestens zehnmal so teuer wie ein Anruf bei uns.“
Die Finanzierung der GIZ werde derzeit grundsätzlich als ausreichend erachtet, heißt es in den zuständigen Ministerien in Mainz und Wiesbaden. Beide Länder hätten die Haushaltsansätze in den vergangenen Jahren kontinuierlich erhöht, sodass dem GIZ jährlich mehr als 1 Million Euro zur Verfügung stehen. Die im Dezember 2022 vom Mainzer Landtag beschlossene Beteiligung des Saarlandes betrage 120.000 Euro, heißt es in Saarbrücken.
GIZ-Leiter Stürer widerspricht: Mit den gestiegenen Haushaltsansätzen hätten „gerade so“ Tarifsteigerungen und die allgemeine Teuerungsrate bei Sachmitteln ausgeglichen werden können. Der dringend benötigte personelle Ausbau des GIZ könne so aber nicht finanziert werden. Dass es seine Arbeit überhaupt aufrechterhalten könne, sei zu einem großen Teil der Universitätsmedizin Mainz zu verdanken.
Appell an die Bundesländer
„Das Chemikaliengesetz verpflichtet die Bundesländer dazu, einen Giftnotruf einzurichten, zu benennen und auch zu finanzieren, um für die Bevölkerung eine Anlaufstelle bei möglichen Vergiftungen zu schaffen“, betont Stürer. „Die beteiligten Bundesländer müssen also dringend ihrer Verantwortung gerecht werden und die Finanzierung des GIZ in Mainz nachhaltig sicherstellen.“
Stürer ist überzeugt, dass nach fast 60 Jahren Giftnotrufe in Deutschland eine Evaluation des „sehr wertvollen Systems“ mit allen Verantwortlichen notwendig ist. Dazu gehört für ihn eine Ausweitung der gesetzlichen Grundlagen. Derzeit sei das Chemikaliengesetz die einzige gesetzliche Grundlage für die Arbeit der GIZ – und damit auch für die Finanzierung. Arzneimittelvergiftungen machten einen großen Teil der Anfragen aus, seien aber nicht abgedeckt.