Rheinland-Pfalz

Für die Kindererziehung gibt es keine Patentrezepte

Für die Kindererziehung gibt es keine Patentrezepte
Arbeitslosigkeit, Geldnöte, Eheprobleme: Viele Eltern sind hoffnungslos mit ihrer eigenen Situation überfordert und können dann häufig auch ihren Kindern keinen funktionierenden Rahmen an Werten und Grundsätzen bieten. In solchen Fällen sind verstärkt die ambulanten Erziehungshelfer gefragt. Foto: Fotolia

Wer heute an den frühen Hilfen zur Erziehung spart, riskiert später höhere Ausgaben für teure Heimplätze. Das schreiben Sozialforscher den Politikern ins Stammbuch. Aber warum brauchen immer mehr Eltern Hilfe bei der Erziehung?

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Wie kaum ein anderer in Rheinland-Pfalz hat Heinz Müller die Jugendhilfe-Landschaft im Blick. Der Diplompädagoge leitet das Institut für Sozialpädagogische Forschung in Mainz. Wir sprachen mit ihm darüber, warum immer mehr Familien Erziehungshilfen benötigen. Das Interview im Wortlaut:

Was halten Sie von der Super-Nanny im Fernsehen?

In der Erziehung gibt es keine Patentrezepte, und was die Super-Nanny tut, hat schon den Charakter von Patentrezepten. In Bausch und Bogen verdammen würde ich solche TV-Serien aber nicht: Sie geben den Zuschauern die Anregung, darüber nachzudenken, was sie selbst in der Erziehung gut machen, was besser laufen könnte und ob sie sich Unterstützung holen.

Die Fallzahlen für ambulante Hilfen zur Erziehung steigen viel stärker als die Inobhutnahmen. Warum?

Der Hilfebedarf hat sich insgesamt erhöht. Bei Heimerziehung, Unterbringung in Pflegefamilien und Tagesgruppen verzeichnen wir seit 2002 einen Anstieg um 40 Prozent, die ambulanten Hilfen haben sich verdoppelt. Das hat viele Ursachen: Es gibt mehr Patchwork-Familien, Eltern müssen häufiger wegen des Arbeitsplatzes umziehen. Die Schulen sieben „schwierige“ Kinder stärker aus, Armut ist ein weiteres Stichwort.

Gibt es mehr gefährdete Kinder und Jugendliche als früher oder ist die Umgebung aufmerksamer geworden?

Alle Untersuchungen zeigen keinen Anstieg der gefährdeten Kinder. Ihr Anteil ist relativ konstant mit leichten Schwankungen. Aber seit dem Tod des kleinen Kevin in Bremen 2006 stellen wir fest, dass deutlich mehr Kinder und junge Menschen in Obhut genommen werden und Familiengerichte häufiger das Sorgerecht entziehen. Das hat damit zu tun, dass Nachbarn, Vereine, Ärzte, Kindergärten und Schulen mehr hinschauen und melden. Kinderschutz kann auch nur so funktionieren. Eine laufende Untersuchung unseres Instituts zeigt: Fast an jeder zweiten Meldung ist etwas dran.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen „fünf Jahren Hartz IV“ und dem steigenden Hilfebedarf?

Es gibt einen Zusammenhang mit der Armutsentwicklung bei Familien, aber das lässt sich nicht auf Hartz IV reduzieren. Seit Jahren stellen Kinder die größte Armutsgruppe dar. In Kommunen, in denen ein höherer Anteil der Kinder von Sozialgeld (Kinder-Satz im Arbeitslosengeld II, d. Red.) lebt, ist der Hilfebedarf größer. Auch im relativ wohlhabenden Rheinland-Pfalz bezieht in den Landkreisen jeder zehnte bis fünfte Mensch unter 15 Jahren Sozialgeld, in Pirmasens sogar jeder dritte junge Mensch. Das bedeutet, dass die Rahmenbedingungen für Erziehung schwieriger werden.

Ihr Institut bereitet den dritten Landesbericht über Hilfen zur Erziehung vor. Was hat sich seit dem 1. Bericht vor fünf Jahren stark verändert?

Der Ausbau der ambulanten Hilfen landesweit, und das ist sehr positiv. Die Jugendämter haben in Zusammenarbeit mit den freien Trägern eine stärker am Bedarf orientierte Infrastruktur geschaffen. Auffallend ist allerdings, dass Hilfen kürzer werden. Aber es gibt auch neue Wege, zum Beispiel die Verbindung von individuellen Hilfen mit Schule und Ganztagsschule. Oder die Schule wird als Ort genutzt, um soziale Gruppenarbeit anzubieten. Das sind zukunftsweisende Impulse.

Freie Träger von Erziehungshilfen klagen, dass einige Kommunen auf Kosten der Qualität die Ausgaben drücken wollen. Was tun?

Seit 20 Jahren wird über steigende Ausgaben für Hilfen zur Erziehung diskutiert. Wir haben klare Erkenntnisse, dass nur die fachlich angezeigte und notwendige Hilfe auch wirtschaftlich effizient ist. Bei Beratungen in Kommunen stellen wir fest: Wenn zuvor gespart wurde, explodieren später die Kosten, weil dann noch teurere Hilfen wie Inobhutnahmen und Heimerziehung nötig werden. „Nach Kevin“ wird über das Sparen kritischer nachgedacht. Jugendämter müssen in der Lage sein, im Einzelfall gut zu steuern.

Was können Politik und Kommunen jenseits der individuellen Hilfen tun?

Kindergärten und Schulen sollten so ausgestaltet werden, dass sie sich besser auf die Lebenssituation der einzelnen Kinder einstellen können. Dann bekämen mehr Kinder eine Chance, die in nicht so günstigen Umständen aufwachsen. Armutsprävention wäre der zweite wichtige Ansatz, um weniger individuelle Hilfen leisten zu müssen.

Die Fragen stellte Claudia Renner