Berlin

Wer nicht mehr kandidiert

Nicht nur Ältere und Hinterbänkler sagen: Tschüss Bundestag!

Von dpa
Annalena Baerbock und Tobias Lindner
Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Außenministerin, sitzt bei der Eröffnung der diesjährigen Botschafterkonferenz im Auswärtigen Amt neben Tobias Lindner (r, Bündnis 90/Die Grünen), Staatsminister im Auswärtigen Amt. Zum dreitägigen Treffen der Leiterinnen und Leiter der mehr als 200 deutschen Auslandsvertretungen sind zahlreiche Repräsentantinnen und Repräsentanten von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur eingeladen. (zu dpa: «Nicht nur Ältere und Hinterbänkler sagen: Tschüss Bundestag!») Foto: Bernd von Jutrczenka/DPA

Wenn die Ampel-Koalition nicht platzt, ist am 28. September 2025 Bundestagswahl. Einige Abgeordnete wollen nicht mehr antreten – aus Frust, wegen Stress, Beschimpfungen oder aus privaten Gründen.

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Berlin (dpa). Alexander Gauland (83) und Albrecht Glaser (82) von der AfD werden bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr antreten – aus Altersgründen. Und dass mit Renate Künast (Grüne) und Petra Pau (Linke) zwei lang gediente Parlamentarierinnen eine erneute Kandidatur ausgeschlossen haben, ist sicher auch keine Überraschung. Unter den Abgeordneten, die in den vergangenen Wochen und Monaten angekündigt haben, dass sie nicht mehr in den Wahlkampf ziehen wollen, sind jedoch einige Männer und Frauen, die durchaus gute Chancen auf einen sicheren Listenplatz und herausgehobene Positionen nach der nächsten Wahl gehabt hätten.

Das hängt in Einzelfällen wohl auch damit zusammen, dass Prominenz und Bürgerkontakt in diesen politisch aufgeheizten Zeiten nicht immer Spaß machen. Manche der Aussteiger sind zudem frustriert, weil sie mit ihren politischen Zielen selbst in der eigenen Fraktion nicht durchdringen konnten. Oft geht es aber schlicht darum, mehr Zeit mit den eigenen Kindern, dem Ehepartner oder gebrechlichen Eltern zu verbringen – vor allem, wenn der Wahlkreis weit weg von Berlin liegt.

Die Erfolgreichen:

Tobias Lindner
Tobias Lindner (Bündnis 90/Die Grünen), Staatsminister im Auswärtigen Amt, steht bei einem Besuch einer schwimmenden Photovoltaikanlage am Sirindhorn-Staudamm auf einem Floß vor einer deutschen Flagge. Bundespräsident Steinmeier und seine Frau besuchen bei einer viertägigen Südostasien-Reise die Länder Vietnam und Thailand. Lindner ist Mitglied der Delegation. (zu dpa: «Nicht nur Ältere und Hinterbänkler sagen: Tschüss Bundestag!»)
Foto: Bernd von Jutrczenka/DPA

Tobias Lindner von den Grünen ist 42 Jahre alt, Vater, und seit 2011 im Bundestag. Dass er nicht mehr antreten will, finden sogar einige Angehörige anderer Fraktionen schade, die seine sachliche, ruhige Art schätzen. Er selbst sagt: «Ich finde, man sollte gehen, wenn es am schönsten ist.» Seine jetzige Aufgabe als Staatsminister im Auswärtigen Amt sei zwar sehr fordernd, mache ihm aber gleichzeitig viel Freude. Er gehe «ohne Frust und Groll» und habe auch noch keinen neuen Job in petto. Politik sei das Spannendste, was er in seinem Leben gemacht habe, «aber es ist nicht mein ganzes Leben». Er kenne einige Parlamentarier, die in seinem Alter seien, Familie hätten und nicht mehr kandidieren wollten, die das so ähnlich sähen.

Nadine Schön
Nadine Schön (CDU/CSU) spricht bei der Debatte zu den Haushaltsberatungen im Bundestag. Debattiert werden die Einzeletats mehrerer Ministerien. (zu dpa: «Nicht nur Ältere und Hinterbänkler sagen: Tschüss Bundestag!»)
Foto: Philip Dulian/DPA

Wie Lindner kommen auch der FDP-Mann Mario Brandenburg (41) zur Zeit Parlamentarischer Staatssekretär im Bildungsministerium, und der 42-jährige Thomas Hitschler (SPD), Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, aus der Südpfalz, haben Kinder und wollen beide nicht mehr für den Bundestag kandidieren.

Claudia Raffelhüschen
Claudia Raffelhüschen (FDP), Ordentliches Mitglied im Haushaltsausschuss, spricht im Plenarsaal im Bundestag. Der Bundestag berät zum Haushaltsentwurf 2025. (zu dpa: «Nicht nur Ältere und Hinterbänkler sagen: Tschüss Bundestag!»)
Foto: Philip Dulian/DPA

Tatsächlich erleben Politikerinnen und Politiker, die nach einer Sitzungswoche in Berlin zu Hause ankommen, oft, dass Parteikollegen im Wahlkreis wenig Verständnis dafür haben, wenn das Klaviervorspiel der Tochter oder der Laternenumzug des Sohnes einmal Vorrang hat vor Lokalterminen bei örtlichen Unternehmen oder Treffen mit Ehrenamtlichen.

Drei Frauen aus der CDU:

Michelle Müntefering
Michelle Müntefering (SPD) spricht beim ordentlichen Bundesparteitag der SPD auf dem Berliner Messegelände. (zu dpa: «Nicht nur Ältere und Hinterbänkler sagen: Tschüss Bundestag!»)
Foto: Bernd von Jutrczenka/DPA

Bei der Union fällt auf, dass mit Nadine Schön (41), Yvonne Magwas (44) und Katja Leikert (49) gleich drei prominente Frauen im mittleren Alter angekündigt haben, dass es ihnen jetzt – erst einmal – reicht. Schön ist seit 2014 stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion. Magwas wurde 2021 zur Bundestagsvizepräsidentin gewählt. Leikert ist Obfrau der CDU/CSU-Fraktion im Familienausschuss.

Familiäre Gründe:

Yvonne Magwas
Yvonne Magwas (CDU), Bundestagsvizepräsidentin, spricht bei der 100. Sitzung des Deutschen Bundestages im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes. (zu dpa: «Nicht nur Ältere und Hinterbänkler sagen: Tschüss Bundestag!»)
Foto: Jörg Carstensen/DPA

Bei ihr sei es «ein klassischer Frauenabgang», sagt Leikert. Auch wenn ihre Kinder nun schon Teenager seien, sei es ihr wichtig, mehr Zeit mit ihnen zu verbringen. Das sei auch kein vorgeschobener Grund, denn «es gibt kein Pöstchen in einem Verband, das auf mich wartet». Leikert, die fehlende Kita-Plätze und Fragen rund um die Organspende zu ihren Herzensthemen zählt, sagt, sie habe kein Problem mit dem aktuellen Kurs ihrer Partei, sondern sei «der Idee der CDU nach wie vor stark verbunden» und wolle sich auch weiterhin politisch engagieren.

Thomas Hitschler
Thomas Hitschler (SPD), Parlamentarischer Staatssekretär bei dem Bundesminister der Verteidigung, spricht während der 161. Sitzung des Bundestages. (zu dpa: «Nicht nur Ältere und Hinterbänkler sagen: Tschüss Bundestag!»)
Foto: Britta Pedersen/DPA

Familiäre Gründe führte auch Michelle Müntefering (SPD) an, die mehr Zeit mit ihrem Ehemann, dem früheren SPD-Bundesvorsitzenden Franz Müntefering (84) verbringen will.

Frust über die eigene Partei:

Hermann Gröhe
Hermann Gröhe (CDU) spricht im Bundestag zum Rentenpaket II in erster Lesung. (zu dpa: «Nicht nur Ältere und Hinterbänkler sagen: Tschüss Bundestag!»)
Foto: Kay Nietfeld/DPA

Ganz anders hat Canan Bayram (Grüne) ihren Abschied angekündigt. Die 58-jährige Juristin, die dem linken Flügel der Partei angehört, schrieb in einer öffentlichen Erklärung, sie sei nicht bereit, ein «Feigenblatt für meine Fraktion zu werden, die weniger Menschenrechte als populistische Diskurse in den Fokus ihrer Arbeit nimmt». Allerdings war wohl auch nicht sicher, ob ihr Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg, Prenzlauer Berg Ost sie erneut als Direktkandidatin aufstellen würde. Zu den Themen, für die sich Bayram besonders im Bundestag engagiert hat, zählte jahrelang die inzwischen beschlossene Legalisierung des Cannabiskonsums für Erwachsene.

Canan Bayram
Canan Bayram (Bündnis 90/Die Grünen), Mitglied des Bundestags, spricht im Plenum. (zu dpa: «Nicht nur Ältere und Hinterbänkler sagen: Tschüss Bundestag!»)
Foto: Julian Weber/DPA

Katrin Schmidberger, die von den Grünen in Bayrams Wahlkreis inzwischen als neue Direktkandidatin des Wahlkreises gewählt wurde, gehört ebenfalls dem linken Parteiflügel an. In ihrer Bewerbungsrede betonte sie die Solidarität mit Geflüchteten und versprach, sich im Bundestag gegen steigende Mieten zu engagieren.

Katja Leikert
Katja Leikert (CDU), Mitglied des Deutschen Bundestags, spricht im Plenum. (zu dpa: «Nicht nur Ältere und Hinterbänkler sagen: Tschüss Bundestag!»)
Foto: Julian Weber/DPA

Auch Gesine Lötzsch (63), die für Die Linke sechsmal in Berlin-Lichtenberg ein Direktmandat geholt hat, nutzte ihre Abschiedserklärung für eine Abrechnung. Sie forderte: «Wir müssen wieder als Friedenspartei erkennbar werden.»

Alexander Gauland
Alexander Gauland, Ehrenvorsitzender der AfD, verfolgt im Plenum des Deutschen Bundestages eine von der AfD beantragte Aktuelle Stunde zur «Aufklärung möglicher Zahlungen an CDU und SPD aus dem Umfeld mutmaßlicher Schleuser». (zu dpa: «Nicht nur Ältere und Hinterbänkler sagen: Tschüss Bundestag!»)
Foto: Christoph Soeder/DPA

Bundestagsneuling Claudia Raffelhüschen von der FDP hat schon nach einer Wahlperiode genug. Die 55-Jährige begründete ihren Ausstieg unter anderem damit, «dass die Politik der Ampel-Koalition nicht immer mit meinen liberalen Grundüberzeugungen im Einklang steht».

Stress, Beleidigungen und Hetze:

Für viele überraschend kam die Ankündigung von SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert (35), der am 7. Oktober erklärte, er gebe aus gesundheitlichen Gründen sein Parteiamt auf und wolle auch nicht mehr kandidieren.

Die CDU-Politikerinnen Magwas gehört zu den Abgeordneten, die sich für ein AfD-Verbot einsetzen. Sie hat ihren Rückzug aus der aktiven Politik im Juli öffentlich gemacht. In einer persönlichen Erklärung schrieb sie: «Zur Wahrheit gehört auch, dass das gesellschaftliche Klima in den letzten Jahren erheblich rauer geworden ist, insbesondere in Sachsen (...) Es wird gelogen, diskreditiert, gehetzt; die Demokratie und ihre Institutionen werden von AfD, Freien Sachsen, III. Weg, NPD und wie sie alle heißen, Tag für Tag und systematisch infrage gestellt mit dem Ziel, sie abzuschaffen.» Als Abgeordnete stehe man dabei besonders im Feuer. «Ich habe viel an Beleidigungen, Bedrohungen, aber leider auch viel Gleichgültigkeit erlebt. Das raubt Kraft», klagte Magwas.

Bei der AfD wurden schon in einigen Landesverbänden Kandidaten aufgestellt. Dabei konnten sich unter anderem die Abgeordneten Christina Baum und Mariana Harder-Kühnel nicht durchsetzen. Die notorische Zwischenruferin Beatrix von Storch wurde wieder auf den Spitzenplatz der Berliner AfD-Kandidatenliste gewählt. Dass sich von den Abgeordneten im mittleren Alter nur wenige freiwillig aus dem Bundestag verabschieden, könnte, so mutmaßen manche in der Fraktion, in einigen Fällen vielleicht auch daran liegen, dass eine Rückkehr in den alten Beruf – soweit vorhanden – mit einer AfD-Biografie in manchen Branchen und Regionen nicht immer einfach sei.

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