Mittelrhein

Interview mit Stefan Neuhaus: Taugt die Loreley zur feministischen Ikone?

Von Esther Jansen
Loreleystatue
Die Loreley-Statue auf der Hafendammmole von St. Goarshausen wartet seit 1983 auf Schiffsleute und Touristen – mit goldenem Haar kann sie allerdings nicht dienen. Foto: Thomas Frey/picture alliance / dpa

Esther Jansen ist die aktuelle Buga-Bloggerin. In loser Folge veröffentlicht unsere Zeitung Beiträge von ihr. Heute geht es um die Loreley und wie sich die Figur literarisch-historisch entwickelt hat.

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Wobei: Ganz so einfach ist das nicht. Zu lange gibt es Geschichten um den gleichnamigen Felsen, zu oft wurde die schöne Frau, die wahlweise als Verlassene, Verführerin, Nixe oder Hexe auftritt, beschrieben – und sogar um ihre Urheberschaft hat die Wissenschaft lange gestritten. Darüber spricht Esther Jansen mit Stefan Neuhaus, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Uni Koblenz. Ein Interview über Misogynie, Metaphern und Missinterpretationen – für das ein wenig Basiswissen über die Loreley nicht schaden kann.

Es gibt diverse Theorien über die Entstehung der Loreley – die einen sagen, Clemens Brentano sei der Schöpfer dieser Figur („Die Lore Lay“, 1800: „Zu Bacharach am Rheine / Wohnt eine Zauberin ...“). Die anderen behaupten, auch er habe nach folkloristischer Vorlage gearbeitet. Wer hat recht?

Es gibt immer irgendwelche lokalen Sagen. Und beim Loreleyfelsen ist es ja so, dass die Strömung des Rheins an dieser Stelle sehr stark ist, was das eine oder andere Schiff zum Kentern gebracht hat. Das hat einen bestimmten Mythoskern geschaffen, und ich gehe auch davon aus, dass Brentano darauf zugreift. Die eigentliche Initiation dafür, dass dieser lokale Mythoskern erst zu einem regionalen, dann nationalen und internationalen Mythos wurde, das ist auf die Ballade von Brentano und später auf die von Heine zurückzuführen.

Wie wahrscheinlich ist es, dass es neben dem Felsen und den ihn umgebenden Erzählungen auch eine menschliche Vorlage für Brentanos „Lore Lay”-Geschichte gab?

Unwahrscheinlich. Uns begegnet hier ein Muster. Mythen entstehen aus dem Versuch, sich Phänomene zu erklären, die noch nicht erklärbar sind. Im Mittelalter sind wir nicht im wissenschaftlichen Zeitalter angekommen, und dass Menschen bei der Umfahrung dieses Felsens im Rhein sterben, das musste man sich magisch erklären. Und Frauen sind damals sowieso an allem schuld; die Femme fatale wurzelt in mittelalterlichen Vorstellungen. Entweder sind es junge und schöne Frauen, die Männer verführen und ins Verderben bringen, oder es sind alte hässliche Frauen, die Männer verhexen und ins Verderben bringen. Das sind stereotype Figuren, die seither überall aufzufinden sind. Dass eine reale Begebenheit dieses Muster, das wirklich überall vorkam, ersetzt haben soll oder eine Ausnahme der Regel darstellt, ist höchst unwahrscheinlich.

Ich beziehe mich jetzt aber erst mal nur auf Brentanos Lore Lay, nicht auf das gesamte Phänomen rund um den Felsen. Denn die lässt ja noch gar keine Schiffe kentern …

Naja, sie verführt Männer. Sie sind ihr verfallen.

Aber Brentanos Lore Lay lockt die Männer noch nicht aktiv ins Verderben. Es gibt durchaus spätere Varianten dieser Figur, die aktiv in den Untergang von Schiffen involviert sind. Brentanos Lore Lay tut aber nichts dergleichen, im Gegenteil. Sie begeht Suizid und aus was für Gründen auch immer sterben die drei Ritter auch – wobei man nicht mal so genau weiß, wie und warum.

Wenn wir in die Interpretation dieses Textes als literarischen Text einsteigen, haben Sie recht. Es gibt Bruchstellen, und die sind auch nicht so einfach auflösbar. In der Literatur der Romantik werden alte Motive zum Spielmaterial. Wir müssen unterscheiden zwischen den Mythen, wo wirklich Leute glaubten, dass junge schöne Frauen, die verführerisch daherkommen, grundsätzlich böse sind, zumindest, wenn sie dann auch noch auf einem Felsen sitzen (lacht), und der Literatur, die das als Stoff- und Motivreservoir benutzt, um zum Beispiel das Gefühl der Romantik darin einzubetten.

Joseph von Eichendorff lässt die Loreley 1815 im Wald auftreten („Waldgespräch“: „Es ist schon spät, es wird schon kalt / Was reit’st du einsam durch den Wald?“). Da erinnert sie fast an den Erlkönig …

Genau, da sieht man gut, wie ein Stoff zum Spielmaterial wird. Ein ganz bunter Text dieser Zeit ist Ludwig Tiecks ‚Der blonde Eckbert‘ von 1812, da findet man den berühmten Begriff der ‚Waldeinsamkeit‘. Und auch da kommt eine alte Frau im Wald vor, ein anderer Prototyp, der damals kursierte. Bei Eichendorff vermischen sich also zwei Prototypen.

Die Figur Loreley kommt in den verschiedenen Texten auch mit unterschiedlichen Symbolen daher. Was hat es zum Beispiel mit dem goldenen Kamm und den goldenen Haaren auf sich?

Gold war etwas Wertvolles, etwas Auffälliges, es hat die farbliche Nähe zur Sonne. Gold steht für den Mythos – denken Sie an König Midas, den Teufel mit den drei goldenen Haaren. Ein typisches Märchenmotiv. Ein stereotypes Symbol für etwas Herausragendes. Es kann auch für Macht stehen.

Apropos, Macht: Gibt es vielleicht Ansätze, die Loreley umzudeuten? Weg von dieser misogynen Lesart der unheilvollen Frau? Man könnte ja auch behaupten, sie sei eine feministische Ikone: Sie hat Macht, entscheidet über Gedeih und Verderb der Männer, die sich selbst nicht zu helfen wissen.

Das stimmt. Finde ich eine total gute Idee. In Karikaturen gibt es das ziemlich sicher schon. In der Literatur kann ich es nicht sagen. Aber bei dem Gedanken würde ich absolut mitgehen. Ich fände es wünschenswert, wenn man die Loreley umcodieren könnte.

Ein letztes Mal zurück zu Brentanos Lore Lay. Ich bin über seine letzten Verse gestolpert: „Wer hat dies Lied gesungen? Ein Schiffer auf dem Rhein, und immer hats geklungen von dem Dreiritterstein: Lore Lay! Lore Lay! Lore Lay! Als wären es meiner drei.“ Outet er sich hier als einer, der selbst der Lore Lay verfallen ist?

Das ist typisch für die Romantik, am Ende wird die Ballade metafiktional, sie verweist auf sich selbst als Dichtung. Dann die Drei als heilige Zahl. ‚Meiner drei‘ könnte man auch so deuten, dass der Autor auf sich selbst als Schöpfer des Textes verweist – die Heilige Dreifaltigkeit wird hier vertreten durch den Autor, der diese Welt der Ballade erschaffen hat, um das mal ein bisschen zuzuspitzen. Das ist aber durchaus ironisch zu lesen. Dass sich Brentano hier ernsthaft zum Gott stilisieren will, glaube ich nicht.

Gibt es vergleichbare literarische Figuren, die so lange eine so große Rolle gespielt haben, so viel Metaphorik in sich vereinen?

Die Loreley ist schon ziemlich ungewöhnlich. Ihre Popularität erklärt sich auch daraus, dass die Figur zusammenfällt mit der Bedeutung des Mittelrheins als einer der ersten großen touristischen Regionen: das Zentrum des beginnenden touristischen Reisens, verbunden mit dem Historismus der Romantik, der versucht, in der Vergangenheit die eigene Gegenwart und Zukunft zu entdecken. Es gibt Regionen, die über Literatur und literarisch verarbeitetes Sagenmaterial eine Qualität bekommen, die dazu anregt, sie zu bereisen. Das Loch Ness mit Nessie ist zum Beispiel vergleichbar. Und wie viele Leute fahren nach Verona und gucken sich diesen Balkon an, obwohl es Romeo und Julia nie gegeben hat?

Interessanterweise ist Heinrich Heines Loreleytext („Die Lore-Ley“, 1824: „ich weiß nicht, was soll es bedeuten / Daß ich so traurig bin“) der Bekannteste – dabei ist der doch irgendwie uneindeutig. Er wirkt anekdotisch, man könnte da verschiedene Haltungen reininterpretieren …

Heine gilt als der große Spötter. Das ‚Buch der Lieder‘, in dem auch die Loreley vorkommt, ist voller Texte, die ambivalent sind, weil sie einerseits die Tradition der Romantik aufgreifen, sie andererseits aber parodistisch unterlaufen. Heine ist kein Romantiker im klassischen Sinne. Die Romantiker glauben an Transzendenz, an etwas Übernatürliches. Heine macht sich darüber lustig. Das ist das Wunderbare an dem ‚Buch der Lieder‘: Heine macht sich über die Romantiker lustig, aber dieses Werk wird als Paradebeispiel romantischer Literatur rezipiert. Das ist eine Falle: ‚Ich weiß nicht, was soll es bedeuten..?‘ – Ja, warum erzählst Du es dann? Und dann diese Häufungen. Gold kommt sehr oft vor, das ist ganz bewusst formelhaft übertrieben. Ich würde sagen, dieses Gedicht ist eine Travestie. Wird aber in der Rezeption zu dem typischen Sehnsuchts- und Romantikgedicht. Eine Fehlinterpretation. Heine lacht wahrscheinlich heute noch im Grab darüber (lacht mit Heine mit).

Haben Sie einen Lieblings-Loreleytext?

Den von Kästner: ‚Der Handstand auf der Loreley‘, ganz eindeutig. ‚Man stirbt nicht mehr beim Schiffen, bloß weil ein blondes Weib sich dauernd kämmt.‘ Ich finde Kästner einfach unheimlich witzig. ‚Humor ist der Regenschirm der Weisen‘ – auch von Kästner!

Die Buga-Bloggerin Esther Jansen lebt auf Burg Sooneck

Burg Sooneck mitten im Welterbe Oberes Mittelrheintal ist Zuhause auf Zeit von Esther Jansen. Als Buga-Bloggerin lebt sie sechs Monate im Tal, um von dort aus Themen auf den Grund zu gehen, die die Menschen in der wunderschönen, aber mit allerlei strukturellen Problemen kämpfenden Region beschäftigen.

Sie führt das Projekt fort, das unter dem Namen Burgenblogger bekannt wurde und nun unter dem Vorzeichen der Bundesgartenschau 2029 im Welterbegebiet Oberes Mittelrheintal steht. Ihre Beiträge veröffentlicht Esther Jansen online unter www.bugabloggerin.de und in den sozialen Medien. Unsere Zeitung ist neben der Buga 2029 GmbH und der Generaldirektion Kulturelles Erbe einer der drei Partner, die hinter dem Projekt stehen. red

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