Vier Uhr morgens, im Hof des Ferienweinguts Liebfried in Nehren startet ein Motor in sonorem Ton. Es ist kein gewöhnliches Fahrzeug, welches gerade warm läuft. Ein schmaler, hoher Traktor mit besonderen Funktionen. Genau genommen: ein Traubenvollernter. Tim macht es sich auf dem Fahrersitz gemütlich. Es ist früh, aber das stört ihn nicht. Er hat sich an diese Uhrzeit schon gewöhnt. Zur Weinernte ist das eben so. Frank Liebfried, Winzer und Besitzer des Gefährts, weist ihn an, welche Weinberge er heute anfahren muss. Noch ist es dunkel, als Tim den Hof in Richtung der Weinberge verlässt. Aber schon bald geht die Sonne auf.
Im Ortskern von Bremm, direkt vor dem Weingut Franzen, versammeln sich 20 Leute. Männer, Frauen, jünger, älter, sprechen miteinander in unterschiedlichen Sprachen. Das Signal von Winzer Kilian Franzen, in die zwei Kleinbusse einzusteigen, verstehen aber alle. „Alle eingeladen?“, ertönt es gut gelaunt vom Fahrersitz – auf geht es zum Arbeitsplatz, der zur Weinlese täglich an anderer Stelle ist. Die Eifel ist inzwischen in den rot-orange-gelblichen Tönen des Sonnenaufgangs eingefärbt, doch über dem Moseltal hängt ein dichter Nebelschleier.
Von Nehren bis nach Ernst ist es eigentlich gar nicht so weit. Etwa zwölf Minuten braucht Frank Liebfried mit seinem Auto. Doppelt so lange dauert es bei Tim. 25 Minuten tuckert er entlang der Mosel. Das traktorähnliche Gefährt kann eben nicht mehr als 40 Kilometer pro Stunde fahren, im Gegensatz zu Frank Liebfrieds Geländewagen. Aber um die frühe Uhrzeit, wenn alle anderen noch schlafen, kann man auch gemütlich den Weg zur Arbeit genießen. Frank Liebfried gerät ins Schwärmen, als er gegen neun Uhr ebenfalls nach Ernst aufbricht: „Wenn die Mosel vom Nebel umgeben ist, sieht das schon toll aus.“
Fünf Minuten fährt der Kleinbus, bevor er am Neefer Frauenberg stehen bleibt. Hier geht es für neun Helfer in den Steilhang. Von unten nach oben. Der Rest fährt weiter, den Frauenberg hinauf. Erst auf einem Teerweg, später über einen Schotterweg, bis der Kleinbus stehen bleibt, auf einem kleinen, schmalen Weg oberhalb des Weinberges. Die Helfer hüpfen raus, brauchen keine Anleitung mehr, wissen genau, wo sie ihre Werkzeuge herbekommen. In einer Hand der Eimer, in der anderen die Leseschere. Und schon sind sie zwischen den Zeilen im Steilhang verschwunden.
Deutlich sichtbar ist der Vollernter im Ernster Wingert. Zwischen den recht flachen Reben fährt er. Beeindruckend, dass überhaupt ein mehrere Tonnen schweres Gefährt zwischen den eng aneinanderliegenden Pflanzen fahren kann. Beim Drehen am Ende der Zeilen muss Fahrer Tim dann doch mal rangieren. „An der Mosel merkt man oft, dass viele Winzer noch sehr in dem alten Handarbeitsdenken drin sind“, erklärt Frank Liebfried vom Boden aus. Zwar hat der Winzer 160 Kunden, für welche er und seine Helfer durch die Weinberge fahren, aber an manchen Stellen sind die Wege doch sehr eng für den Vollernter. Das merkt man vor allem dann, wenn man als Beifahrer die gut vier Meter zur Fahrerkabine hochklettert und dort Platz nimmt. Zwischen den Zeilen passt das Gefährt aber hindurch, und das ohne Beschädigungen.
Eigentlich geht es hier in Ernst flach herunter – oder doch steil? Wer als Laie mit dem Vollernter mitfährt, ist sich da erst einmal nicht so sicher. Zwölf Prozent Steigung hat der relativ flache Wingert. Das Auge erkennt es nicht einmal. Wer davorsteht, nimmt eine Steigung wahr, aber nur ganz leicht. Nichts, was anstrengend wirkt. Sitzt man erst einmal in vier Metern Höhe und fährt über die einzelnen Reben, während der Untergrund einen regelrecht durchschüttelt, sieht das schon wieder ganz anders aus. Als Beifahrer versucht man, sein Gleichgewicht zu halten – gar nicht so einfach. Die Füße suchen einen festen Stand auf dem Boden, damit der Körper nicht nach vorne überkippt. Hangaufwärts ist das nicht das Problem, da ist Zurücklehnen angesagt.
Im Neefer Frauenberg wuseln die Helfer durch den Steilhang. Mal schneller, mal vorsichtiger. Einige laufen so schnell den Hang hinauf oder herunter – vermutlich, weil sie trittsicherer sind als Laien, die zum ersten Mal in einem Weinberg stehen. Ausgeliehene Wanderschuhe, eigentlich eine Nummer zu groß, und Reithandschuhe statt Arbeitshandschuhe sind übrigens nicht zu empfehlen. Blasen an den Füßen sind programmiert, und die Ernteschere wird plötzlich zu einem unhandlichen Werkzeug. So unhandlich, dass Schnittwunden entstehen können, wenn man einen Handschuh zum Festhalten der Trauben auszieht.
Trittsicherheit ist etwas, was wohl mit der Erfahrung kommt. Bei Steigungen von 64 Grad am Frauenberg kommen Wanderlehrlinge eben auch mal ins Schwitzen. Wer nicht aufpasst, rutscht schnell mal über den Boden oder stolpert – und herunterfallen will hier wirklich niemand. Die recht eng aneinanderliegenden Rebstöcke sind hier also durchaus von Vorteil, um zur Sicherheit Griff an ihnen zu finden.
Der Blick nach draußen ist friedlich – Rebpflanzen, manche mit, manche ohne Trauben, der neblige Schleier über der Mosel, hier und da halten Spaziergänger an, beobachten gespannt den Vollernter, dem sie nicht alle Tage im Wingert begegnen. In der Fahrerkabine muss man aber alles im Blick haben. „Wunder dich nicht, dass Tim keine Schuhe trägt“, sagt Frank Liebfried. Bei dem Satz kommt erst einmal Verwunderung auf: Der Boden der Fahrerkabine ist aus Glas, um im Blick behalten zu können, was untendrunter passiert. Schuhe würden diese zu sehr verschmutzen. Den Blick nach unten zu haben, ist wichtig, denn da passiert das Wesentliche. Zwischen den Rädern des Vollernters ist ein Tunnel, der sich über der Rebzeile schließt.
Schüttelstäbe links und rechts im Inneren der Maschine und dieses Tunnelsystems rütteln die Rebstöcke, sodass die Trauben abfallen. Der Kunststoff um die Stäbe herum schützt die Pflanzen vor Beschädigungen und lässt die Trauben sanft in ein Lamellensystem hinunterpurzeln. Fast immer fallen sie ohne Stängel ab, lösen sich von den Rispen und werden über ein Förderband in einen Auffangbehälter transportiert. Von hier aus werden Blätter und kleine Äste, die eben doch abgefallen sind, mittels eines Gebläses entfernt. Und das war es auch schon. Auf einem Bildschirm, in der Fahrerkabine rechts oben, sieht man Zahlen über Zahlen. Auf den ersten Blick verwirrend, erklärt Fahrer Tim es recht einfach: Hier kann die Rüttelstärke eingestellt werden. Die ist je nach Rebsorte anders. Elbling- sind beispielsweise schwieriger von den Pflanzen zu bekommen als Rieslingtrauben.
Das stumpfe Klacken der Leseschere fühlt sich nach einer halben Stunde fast schon vertraut an, ebenso wie das Gefühl feuchter Hände – auch durch Handschuhe hindurch –, wenn mal wieder eine der prallen Trauben zwischen den Fingern platzt. Zwischendurch sind die Handschuhe sogar so durchnässt, dass es angenehmer ist, die Früchte mit nackten Händen zu ernten. Dafür duftet es dann gut. „Viel falsch machen kann man hier eigentlich nicht“, sagt Kilian Franzen. Ausnahmen bestätigen die Regel, denn wer es genau nimmt, findet hier und da doch Dinge, die genauere Beachtung erfordern. Bei den Pflanzen, die etwas karg aussehen, gilt: probieren. Wenn es bitter schmeckt, kommen die Trauben auf den Boden, statt in den Eimer.
Eingegangene, stark vertrocknete Trauben ebenso: Sie haben unter der Hitze und Sonneneinstrahlung gelitten. Denn Trauben können ebenso Sonnenbrand bekommen wie Menschen. Das kommt vor allem in den Lagen vor, die nahe an Teerstraßen liegen. Sonnencreme für das eigene Gesicht ist im Weinberg übrigens auch zu empfehlen: Lichtet sich erst einmal der Nebel und die Sonne kommt durch, kann diese doch schon einmal Sonnenbrandgefahr auslösen. Verfärbte Trauben, die schwarze Stellen haben, teilweise einen staubigen, pulvrigen grauen Schleier tragen, gehören ebenfalls weg – Schimmelgefahr. Wer darauf achtet, ist auf der sicheren Seite.
Gerade einmal eine Minute dauert es, bis der Vollernter eine Rebzeile leer gefegt hat. An den Rispen hängen keine Trauben mehr, die befinden sich alle im Speicher des Gefährts. Wenn dieses voll ist, heißt es ausladen. Am Wegrand steht dafür ein Winzer aus Ernst bereit: Mit Traktor und Anhänger hat er sich auf den Weg gemacht, um an seinem Weinberg parat zu stehen. Den Vollernter verfolgt er – gespannt darauf, wie viele Trauben letzten Endes in seinem Anhänger landen. Endlich ist es so weit, der Traubensammler auf Rädern macht neben dem Anhänger halt. Mechanisch kippt der Speicher – und lässt die Trauben in den Anhänger purzeln. Ruck, zuck ist dieser voll. Zweimal entleert Fahrer Tim den Traubenspeicher, schon kann der Winzer seinen Traktor in Richtung seines Weinguts fahren, um die Trauben in die Kelter zu geben.
Oft geht man dann einen Tag vorher in den Weinberg und sortiert aus, aber der Vollernter kann nur alle Trauben abschütteln oder eben keine.
Frank Liebfried
„4000 Quadratmeter kann er in einer Stunde ernten“, merkt Liebfried an. Ziemlich flott, so eine Vollernter-Weinlese. Dafür gibt es aber auch einen Nachteil, den auch Frank Liebfried anmerkt: „Man kann natürlich nicht aussortieren. Oft geht man dann einen Tag vorher in den Weinberg und sortiert aus, aber der Vollernter kann nur alle Trauben abschütteln oder eben keine.“ Dafür gibt es aber entscheidende Vorteile: Es geht schnell, wenn man nicht gerade als Beifahrer laienweise mitfährt, ist der Vollernter eine bequeme Erntemethode, abgesehen davon, dass es hin und wieder ein wenig rüttelt.
Außerdem: Wenn es regnet, schützt das Dach über dem Kopf. Bei starkem Regen bleibt der motorisierte Traubenernter dennoch stehen, da es zu gefährlich werden könnte. Der Wagen könnte stecken bleiben oder rutschen, die Rebpflanzen könnten so beschädigt werden. Denn, und das ist wichtig, der Vollernter darf nur gerade zwischen den Rebzeilen fahren. Wer sich unterhalten will, muss sich anstrengen: Die Geräuschkulisse sorgt dafür, dass die Stimmbänder strapaziert werden. Lauter reden, besser zuhören, aber im Endeffekt wird in der Fahrerkabine nicht allzu viel gequatscht. Schließlich sind die Fahrer die meiste Zeit alleine. Einsam ist der Job aber nicht: Mit den Kunden, also anderen Winzern, sprechen die Fahrer über das Telefon oder persönlich zur Abrechnung.
Gemütlich ist etwas anderes: Der Rücken zieht hier und da vom Bücken, der Finger pocht wegen einer Schnittwunde und der Steilhang geht ganz schön in die Knie. Die Handlese hat es eben in sich. Zurücklehnen ist höchstens in der Kaffeepause oder beim Mittagessen drin. Dafür halten Gespräche über befreundete Winzer, wie das Fußballspiel am Abend davor lief oder die Faszination über die rumänische oder ukrainische Sprache bei guter Laune. Die Vorstellung, am Wochenende mit Freunden einen Tag bei der Weinernte zu verbringen, ist gar nicht so abwegig – es macht Spaß, sogar für einen Gartenarbeitsmuffel. Und das Erfolgserlebnis, wenn der Blick am Ende des Tages auf die Sammelbehälter im Traktoranhänger fällt – „das alles haben wir heute entleert?“ – unvergleichbar.
Zum Glück muss nicht der Steilhang mit jedem vollen Eimer erklommen werden. Stattdessen geht Kilian Franzen seiner Lieblingsaufgabe bei der Weinlese nach: „Mit der Hotte rumzulaufen, macht mir eigentlich am meisten Spaß.“ Außerhalb der Weinlese könnte der Begriff für Verwirrung sorgen – es handelt sich um ein grünes, längliches, großes Gefäß, nach oben verläuft es breiter als unten. Franzen schnallt es sich auf den Rücken wie einen Rucksack, geht vor den Helfern in die Hocke, damit diese ihre Traubeneimer entleeren können. Ist die Hotte voll, erklimmt der Winzer den Steilhang und schüttet die Trauben in die Sammelboxen.
Vier bis sechs Wochen dauert es, bis Kilian Franzen seine Weinberge geerntet hat. Eine lange Zeit im Vergleich zum Vollernter. Neun Kisten an einem Tag ergattert sein Team bei der Handlese – in etwa das Doppelte, was der Vollernter in nur einer Stunde erreicht hat. Beide Erntemethoden haben ihre Vor- und Nachteile, die wohl jeder Winzer für sich und seine Philosophie einordnen muss.