Von unserem Reporter Dominic Schreiner
Der Mann, mittleres Alter, Businessanzug, schaut in die Tüte, in der er sich sein Mittagessen mitgebracht hat, und prüft ihren Inhalt. Er nickt zufrieden und dreht sich zu seinem Sitznachbarn: „Heute gibt es Piazzolla.“
Sein kundiger Begleiter weiß, dass der Mann damit nicht etwa eine exotische Wurstsorte beziehungsweise den Belag auf seinem Sandwich meint. Schließlich sitzen die beiden, gemeinsam mit etwa 1500 anderen Besuchern, im Foyer der Berliner Philharmonie und warten auf den Auftakt zum Lunchkonzert. Gleich werden vier Kontrabassisten des weltberühmten Orchesters etwa eine Stunde lang Tango zu Gehör bringen, darunter eben auch Kompositionen des argentinischen Tonsetzers Astor Piazzolla – in der Mittagspause und bei freiem Eintritt.
Seit sieben Jahren bietet die Kulturinstitution zwischen September und Juni in der Hauptstadt eine Konzertreihe, bei der statt Kammschnitzel stets Kammermusik auf dem Menü steht: Kunstgenuss als temporäre Auszeit vom hektischen Arbeitsalltag in der Großstadt. Bei den ersten Lunchkonzerten 2007 kamen gerade mal 200 Besucher. Doch die Idee, die Pamela Rosenberg, die ehemalige Intendantin der Stiftung Berliner Philharmoniker, in der New Yorker Carnegie Hall aufgeschnappt und nach Deutschland importiert hatte, schlug mächtig ein.
2009, nur zwei Jahre später, musste wegen des enormen Zuspruchs ein brandschutztechnisches Konzept speziell für die Reihe entwickelt werden. Seitdem sind die Besucherzahlen, die auch schon auf 2000 Menschen hochgeschnellt waren, auf 1500 begrenzt. Diese Zugangsbeschränkung hat der Popularität der Lunchkonzerte keinen Abbruch getan. Am Tangodienstag bilden sich bereits um 11.30 Uhr und somit eine halbe Stunde vor Öffnung der Türen an beiden Eingängen Menschenschlangen. Im Inneren des Foyers treffen Hostessen im dunkelblauen Nadelstreifenkostüm letzte Vorbereitungen, ordnen Programmhefte, richten Absperrungen aus. Pünktlich um 12 Uhr schreitet ein Mitarbeiter der Philharmonie zum Amt und schließt die Türen auf. Er kann gerade noch rechtzeitig zur Seite springen, bevor die Gäste in einer eiligen Horde in das Gebäude stürmen. „Jaja, der große Kampf“, sagt ein älterer Herr angesichts des Szenarios und schlendert lässig weiter.
Rasend schnell mäandert der Besucherstrom in alle Winkel des verschachtelten, lichten Raums, nimmt auf Treppen und dem Boden Platz, erobert jede noch so ferne Nische, von der aus man später die Musiker zwar nicht sehen, aber dennoch jede Note hören kann. Manche haben sich Picknickdecken mitgebracht oder sitzen auf ihren Jacken und Mänteln auf dem nackten Untergrund. Andere wiederum suchen sich ein Plätzchen auf dem lindgrünen Teppich der Galerie, auf den sie sich niederlegen, manche in Gruppen, andere allein. Um 12.30 Uhr, also immer noch ein halbe Stunde vor Konzertbeginn, hat Besucher Nummer 1500 Zutritt gefunden. Nichts geht mehr. Auch wenn an beiden Eingangsportalen immer noch Menschentrauben stehen.
So klingen moderne Erfolgsgeschichten im Kulturbereich, nimmt man den Besucheransturm als Gradmesser. Sicher trägt die Tatsache, dass die Konzerte keinen Eintritt kosten, ihren Teil dazu bei. Aber für den großen Zuspruch scheint es noch andere Ursachen zu geben: die legere Atmosphäre (jeder kann gerade so kommen, wie er will), aperçuhafte, leicht bekömmliche Darstellungen und auch, dass man sich nach Feierabend nicht noch auf den Weg runter vom Sofa und rein ins Konzerthaus machen muss, um Kultur zu erleben.
Die Berliner Philharmonie nimmt für sich in Anspruch, deutschlandweit die erste Institution gewesen zu sein, die regelmäßige Kurzkonzerte zur Mittagszeit in ihr Programm aufgenommen hat. Andere sind ihrem Beispiel gefolgt: In Köln, Hamburg, Braunschweig und Frankfurt beispielsweise laden Orchester oder Theater wenigstens einmal im Monat zum mittäglichen Hörgenuss. Die Oper Stuttgart bietet in der laufenden Spielzeit eine neue Veranstaltungsreihe und nennt sie getreu des Berliner Vorbilds Lunchkonzerte.
Immer mehr Kultureinrichtungen entsprechen dem Wunsch des Städters nach mehr Kultur – ein bisschen mehr, ganz unkompliziert während des Tages genossen, und ohne dafür bezahlen zu müssen. Dabei beschränkt sich kulturelles Zwischendurch-Angebot keinesfalls auf Konzerte. Auch Museen haben die Zeichen der Zeit erkannt und laden ihrerseits Arbeitnehmer dazu ein, Kunst als temporäres Vehikel für Entspannung vom Arbeitsalltag zu nutzen. So treffen sich im Landesmuseum Mainz Interessierte zweimal wöchentlich zur „Kunst in der Mittagspause“. Und zahlen dafür sogar Eintritt, wenngleich der auch nur 1 Euro beträgt. Generell gilt für die Kultur-Quickies, dass sie kostenfrei sind oder ein Eintrittsentgelt fordern, das den Preis einer Currywurst an der nächsten Straßenecke nicht übersteigt.
Auch das Museum in der Moritzburg in Halle an der Saale, ein Verbund von fünf Museen am Bamberger Dom und das Museum im baden-württembergischen Ratingen bieten seit diesem Jahr eine Art Schnellimbiss für Kunstfreunde als Alternative zum Kantinenbesuch – nur drei von vielen Beispielen. Der Trend zum Kultursnack hat die Metropolen verlassen und breitet sich aus.
Wahrhaftige Snacks bietet zum Lunchkonzert die Gastronomie in der Berliner Philharmonie. Gegrillter Kürbis, Tafelspitz oder Erbsensuppe gibt's deutlich unter 10 Euro. Doch das Essen scheint hier Nebensache zu sein. Die wenigsten stellen sich an, um sich den Magen zu füllen. Die meisten sind einfach gekommen, um ihren Hunger auf Musik zu stillen.
Schon beim ersten Ton eines Potpourris aus finnischen Tangos, mit dem die vier Kontrabassisten das Lunchkonzert eröffnen, verstummen alle Gespräche, schließen sich unzählige Augen, lehnen sich viele Gäste zurück und geben sich der Musik hin. Eine etwa 35-jährige Besucherin im lachsfarbenen Kostüm, auf dem Schoß einen Zeichenblock, lässt ihrer eigenen Kreativität freien Lauf, wiegt ihren Oberkörper im Rhythmus der Musik, lässt synchron zum Takt, den die Musiker vorgeben, ihren Stift über das Papier fliegen, produziert so ein Bild aus wirren Linien – und wirkt dabei entspannt.
Draußen vor der Tür stehen indes immer noch die Unverzagten, die auf Einlass hoffen. Eine, die regelmäßig zum Lunchkonzert kommt und ganz in der Nähe am Potsdamer Platz arbeitet, zeigt sich großmütig: „Ich bin nicht frustriert, weil ich jetzt nicht mehr reinkomme. Bei schönem Wetter wie heute ist es hier immer voll. Als ich vorhin von meinem Arbeitsplatz aus gesehen habe, wie die Touristenmassen herströmen, habe ich mir schon gedacht, dass es eng werden könnte. Komme ich halt nächste Woche wieder“, sagt sie und schlendert zurück zum Büro.
Tatsächlich haben seit einiger Zeit auch die internationalen Berlinbesucher die Lunchkonzerte für sich entdeckt und legen hier für eine Stunde die Füße hoch. Manche Anbieter von Besichtigungstouren in der Hauptstadt haben die Veranstaltung fest in ihr Programm aufgenommen. Dann rollen in der Herbert-von-Karajan-Straße zur Mittagszeit die Busse an.
Darüber hinaus haben vor einiger Zeit Ratgeber wie „Gratis in Berlin“ die Veranstaltungsreihe in die Liste ihrer Tipps für kostenfreie Hauptstadterlebnisse aufgenommen und den Boom der Lunchkonzerte nochmals befeuert. Dennoch: Auch wenn die musikalische Mittagspause die künstlerische Speerspitze der Umsonstkultur an der Spree abbildet (bei der im Übrigen auch alle auftretenden Musiker keine Gage bekommen und trotzdem mit größtem Vergnügen auf der Bühne stehen), werden der Idee größter Respekt und enorme Wertschätzung entgegengebracht. Und Dankbarkeit.
Nach den finnischen Tangos spielen die Männer an den großen Streichinstrumenten drei Stücke des berühmten Astor Piazzolla, dann vier Stücke von Johannes Lauber, dann wieder finnische Tangos. Versonnene Blicke begleiten jede Bogenbewegung, rhythmisch wippende Körper saugen die Musik in sich auf, manche Gäste lächeln selig vor sich hin.
Der letzte Ton verklingt: Jubel und Applaus brechen sich Bahn. Dann sucht sich das Philharmonikerquartett, das sich nach dem Abgang von der Bühne umarmt hatte, einen Weg durchs Publikum. Die Zuhörer rufen ihnen zu, winken, die Musiker lächeln zurück. Die Türen zur Philharmonie öffnen sich. Dann kehrt jeder in seinen Alltag zurück.