Boulevard
Die Ärzte singen über Tamagotchis und Gott
frei

Wir schreiben das Jahr 1982: Helmut Kohl wird Bundeskanzler, in Spanien verspielen Paul Breitner, Karl-Heinz Rummenigge und Co. den WM-Titel gegen Italien - und in einem besetzten Haus in West-Berlin (so will es die Legende) geben die Ärzte ihr erstes Konzert.

Wir schreiben das Jahr 1982: Helmut Kohl wird Bundeskanzler, in Spanien verspielen Paul Breitner, Karl-Heinz Rummenigge und Co. den WM-Titel gegen Italien – und in einem besetzten Haus in West-Berlin (so will es die Legende) geben die Ärzte ihr erstes Konzert.

Heute, 30 Jahre später, liefert die selbst ernannte „beste Band der Welt“ ihr zwölftes Studioalbum „Auch“ (Hot Action Records) ab. Selbst wenn man die fünfjährige Trennung der Band rausrechnet, steckt in diesem Werk ein Vierteljahrhundert Bandleben. Womit wir bei der entscheidenden Frage wären: Ist das, was Farin, Bela und Rod vorlegen, noch zeitgemäß? Die Antwort: Ja. „Auch“ macht genau das, was ein Ärzte-Album immer macht: Spaß. Und ganz nebenbei ist es noch eins der harmonischsten Werke der langen Bandgeschichte geworden.

Auf „Auch“ scheinen die Ärzte – bewusst oder unbewusst – großen Wert auf Ausgeglichenheit gelegt zu haben. 6 der 16 Stücke steuert Farin Urlaub bei, je fünf Mal dürfen Bela und Rod ran. Auffällig ist vor allem, dass der Bruch zwischen Farins und Belas Liedern sowohl musikalisch als auch textlich dieses Mal so klein ist wie selten zuvor. Wo früher auf eine grenzdebile Punkrocknummer ein traurig-gesetztes Vampirlied des Stehtrommlers folgte, stehen nun einträchtig flotte Nummern über Freundschaft und Beziehungen hintereinander. Insgesamt ist die Platte, was das Tempo angeht, homogen wie selten. Es gibt keine herausstechende Ballade und keinen rahmensprengenden Punk-Kracher. Die meisten Stücke pendeln sich im mittleren Pop-Punk-Tempo ein.

Das heißt allerdings nicht, dass die Platte langweilig ist oder die individuellen Stärken von Bela, Farin und Rod nicht mehr zur Geltung kommen – ganz im Gegenteil. Farin glänzt nach wie vor vor allem bei den tanzbaren Stücken durch clevere Texte. Dabei wird es auf „Auch“ nur ein Mal gesellschaftskritisch, dieses Mal zum Thema Religion („Da sah ich ein Stück Holz, das sah heilig aus. (...) Und da schnitzte ich mir einen Gott daraus.“). Ganz stark ist „TCR“, bei dem die Ärzte im Lied selbst mit Gitarrensoli, Geschrei und Rockabilly-Parts vorspielen, wozu sie noch gut sind. Ein wilder Stilmix, der so sicher nur aus der Feder von Farin Urlaub kommen kann.

Untypischerweise setzt auch Bela auf schnellere Stücke. Egal, ob er bei „Das darfst Du“ über das Ausbrechen aus der Masse singt oder bei „Freundschaft ist Kunst“ mit mehr als einem Augenzwinkern über eine ganz spezielle Szene.

Rod schließlich wandelt, ebenfalls nicht zum ersten Mal, mit fast schon schmalzigen Textzeilen teilweise ganz hart an der Kante zum Schlager. Dafür steuert er allerdings mit „Tamagotchi“ einen der genialen Momente bei, die in ihrer Absurdität so nur bei den Ärzten vorkommen. Wenn der Bassist der Band mit viel Verve in der Stimme singt „Tamagotchi, mein Kind aus einer anderen Zeit. Wo bist du denn? Wie geht's Dir heut?“ und dann sinniert, ob sein digitales Familienmitglied nun im Drogenwahn durch Berlin irrt oder Jura studiert, dann weiß man ziemlich genau, warum die Ärzte immer noch eine der wichtigsten deutschen Bands sind – auch 30 Jahre nach Helmut Kohl und Karl-Heinz Rummenigge.

Videos zu den 16 Liedern sieht man auf der Internetseite der Band unter www.bademeister.com

Von unserem Redakteur Markus Kuhlen

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