Ferguson

Unruhen: Der lange Weg zur Versöhnung in Ferguson

Foto: dpa

Gary Hill hat übernommen, er verkörpert jetzt die Autorität. Jedenfalls gibt sich der Pfarrer alle Mühe, den Demonstrationszug zu lenken. Mit rudernden Armen, wie ein hyperaktiver Lotse, steht er im flackernden Licht einer Ampel, die für ein paar Stunden nur die Farbe Grün zu kennen scheint.

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Von unserem USA-Korrespondenten Frank Herrmann

„Und jetzt wenden, Leute! Immer schön linksrum! Das ist es, gut macht ihr das, Leute! Ich bin stolz auf euch!“ Sonntags predigt der drahtige Geistliche in der Temple Church of Christ, einer afroamerikanischen Kirche in Ferguson. In dieser Nacht ist er Krisenmanager, mit anfangs dröhnender, später erschöpft krächzender Stimme darauf bedacht, den Zorn in geordnete Bahnen zu lenken. Gary Hill, der Friedenslotse.

Wer in Amerika protestiert oder streikt, der marschiert im Kreis. In Ferguson ist es eher ein Oval, ein sehr lang gezogenes, von einer Ampelkreuzung zur nächsten. Und selbst ernannte Friedenslotsen wie Hill wollen dafür sorgen, dass keiner abweicht von der vorgeschriebenen Route, keiner etwas Beleidigendes ruft, dass keiner von den jungen Hitzköpfen verletzt, was besonnenere Köpfe mit der Polizei ausgehandelt haben: ein provisorisches, fragiles Regime, das den Protestlern eine Art Korridor fürs Marschieren freilässt.

Einen Korridor, in dem die Polizisten nur hier und da in kleinen Gruppen am Straßenrand stehen, ihre durchsichtigen Plastikschutzschilde lässig in den Händen. Sie wollen, sie sollen nicht wirken wie die massive Phalanx der vergangenen Nächte, eine Wand aus Schilden und Helmen, die Fergusons junge Männer eher zum Widerstand reizt, statt sie zum Aufgeben zu bewegen.

Erst Frieden, dann Gerechtigkeit

Diesmal scheint die Absprache zu halten, jedenfalls ziemlich lange. „Hände hoch! Nicht schießen!“, rufen die Demonstranten ihren Slogan in die Nacht. Abends gegen neun sind es vielleicht 300, später werden es mehr. Einige tragen Tücher vor Mund und Nase, aus Schutz gegen Tränengas, im Zweifelsfall wohl auch, um sich später vermummen zu können. Hier und da eine Gasmaske, provisorisch gebastelte Masken, die nicht so aussehen, als würden sie viel nützen – und wohl sowieso eher symbolisch gemeint sind. „Wir wollen Frieden, damit wir Gerechtigkeit kriegen“, ruft Charles Brooks in sein Megafon. Es ist ein neuer Spruch, eine Parole, die zur Entspannung beitragen soll. Die Alternative zum „No Justice! No Peace!“, wie es in den Nächten zuvor durch Ferguson schallte – keine Gerechtigkeit, ergo kein Frieden: Solange er nicht vor Gericht steht, der Polizist, der den Teenager Michael Brown erschoss, solange wird Ferguson nicht zur Ruhe kommen, geht die kämpferische Logik der Jungen. Erst mal Ruhe, damit die Mühlen des Rechtsstaats mahlen können, setzen nun ihre Väter dagegen. Es sind lokale Autoritätspersonen, die ihre Stimme erheben. Auf Leute von außerhalb hört Ferguson nicht.

„Vielleicht ist das heute ein Wendepunkt“, hofft Charles Brooks. Schweißgebadet, im ärmellosen Hemd, läuft der 41-Jährige mit den Muskeln eines Bodybuilders neben den Demonstranten her, um sie, genau wie Gary Hill, auf der vorgeschriebenen Route zu halten. Brooks fährt Kühlschränke und Waschmaschinen aus, unmittelbar nach der Schicht ist er zur Florissant Avenue geeilt, um als eine Art Ordnungshüter ohne Dienstmarke Dienst am Gemeinwohl zu leisten.

„Wir müssen Brücken bauen zur Polizei“, sagt Brooks. „Aber ganz ehrlich, im Moment steht noch nicht mal der erste Brückenpfeiler. Wir sind am Punkt Null.“ Am Ende der Nacht, der zehnten Nacht der Unruhen, zieht Ron Johnson, der afroamerikanische Highway-Patrol-Captain, der die Einsatzkräfte am Unruheherd kommandiert, eine Bilanz, die vergleichsweise positiv ausfällt. Nur 47 Festnahmen. Die Polizei setzte erstmals seit langem kein Tränengas ein, nur Pfefferspray. Von der anderen Seite flogen keine Molotowcocktails, nur hier und da ein paar Steine und Flaschen. Anderswo würde sich Johnsons Bilanz vielleicht schockierend lesen, in Ferguson ist sie ein Fortschritt. Ein kleiner.

Obama schaut aus der Ferne zu

Der Mittwoch ist der Tag Eric Holders, des Justizministers, der aus Washington nach St. Louis fliegt, das erste Kabinettsmitglied, das sich blicken lässt in dem Hexenkessel. Dass Barack Obama das Geschehen weiter nur aus der Ferne beobachtet, trägt ihm heftige Widerworte ein, auch und gerade von früheren Fans.

„Ferguson ist Obamas Katrina“, meint Kevin Powell, Sprecher von BK Nation, einer New Yorker Initiative, die sich den Rassenbeziehungen widmet. George W. Bush habe den Fehler gemacht, das Ausmaß der Katastrophe – das überflutete New Orleans nach dem Wirbelsturm, die hilflos Gestrandeten im Superdome – in den ersten Tagen danach grob unterschätzt zu haben. Obama könne sich nicht leisten, dass Ferguson auf seiner Weste zu einem ähnlichen Schandfleck werde, orakeln seine Kritiker. Gerade Obama nicht, der erste dunkelhäutige Präsident der amerikanischen Geschichte, die Symbolfigur einer – zu frühen, zu sehr von Träumen getragenen – Hoffnung auf ein Amerika, in dem die Farbe der Haut keine Rolle mehr spielt.

Ob Präsident Barack Obama kommt oder nicht, die Demonstranten an der Florissant Avenue interessiert es nur am Rande. Wichtiger ist ein anderes Symbol, die Eröffnung des Verfahrens gegen Darren Wilson, den Polizisten, der sechs Mal auf Michael Brown feuerte. Parallel zu Holders Besuch soll eine Grand Jury tagen, das Gremium, das zu entscheiden hat, ob Wilson demnächst vor einem Richter steht oder nicht.