Mainzer Verfassungsrechtler zweifelt an SPD-Votum
Die designierte SPD-Vorsitzende Andrea Nahles sagte: „Ob wir in eine neue Große Koalition eintreten, ist in der SPD keine Entscheidung der Parteispitze allein.“ Alle Sozialdemokraten „treffen diese Entscheidung alle gemeinsam“. Für die Erfolge lohne es sich aber zu kämpfen.
Der Mainzer Verfassungsrechtler Prof. Friedhelm Hufen beobachtet das Mitgliedervotum der SPD über den mit der Union ausgehandelten Koalitionsvertrag allerdings mit Bedenken. Dass etwa 463.000 Mitglieder, darunter auch nicht wahlberechtigte Ausländer und Jugendliche, über die künftige Bundesregierung abstimmen, wertet Hufen „als verfassungsrechtlich höchst bedenklich“.
Denn mit dem Votum würden die Abgeordneten unter Druck gesetzt. „Praktisch erhalten sie ein imperatives Mandat“ – also den Auftrag, im Sinne ihrer Partei abzustimmen. Wenn sie nur ihrem Gewissen folgten und sich nicht so entscheiden, wie die Mehrheit der SPD es will, „sind sie bei der nächsten Kandidatenaufstellung weg vom Fenster“, beschreibt Hufen, der von 2008 bis 2014 auch dem rheinland-pfälzischen Verfassungsgerichtshof angehörte, die Lage. Das Grundgesetz aber besage, dass die frei gewählten Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes und nicht an Aufträge und Weisungen gebunden sind.
Wenn Befürworter das SPD-Votum für demokratischer halten als einen Beschluss des CSU-Vorstands oder eines CDU-Parteitags, dann widerspricht der Rechtswissenschaftler. „Denn diese Voten entsprechen der repräsentativen Demokratie von Deutschland: Der Vorstand ist von der Partei für die Entscheidung beauftragt – und die Delegierten eines Parteitags sind für die Abstimmung gewählt“, argumentiert Hufen.
Das Bundesverfassungsgericht hat über Klagen gegen das Mitgliedervotum aus formalen Gründen nicht entschieden und sich inhaltlich bisher noch nicht mit der brisanten Frage befasst. „Parteien sind nicht Teil des Staates“, urteilten die Karlsruher Richter. Damit Verfassungsbeschwerden Erfolg haben, hätten die Kläger nachweisen müssen, selbst vom Staat in eigenen Grundrechten verletzt zu sein. Daher denkt Hufen, dass womöglich ein Bürger Erfolg hätte, der argumentiert: „Mein Wahlrecht wird unterlaufen.“ Denn nach Umfragen befürworten mehr SPD-Wähler eine neue GroKo als SPD-Mitglieder. Der Mainzer Wissenschaftler würde sich jedenfalls eine Vorgabe vom Bundesverfassungsgericht dringend wünschen. Denn nach seinem Verständnis setzt das Grundgesetz immer wieder Fristen und gibt ein gewisses Tempo vor. „Jetzt aber verzögert eine Partei eine Regierungsbildung, muss die ganze Republik warten, bis sich die SPD-Mitglieder entschieden haben“, kritisiert Prof. Friedhelm Hufen.
Ärger gibt es unterdessen um ein Begleitschreiben, das den Unterlagen für das Votum beiliegt. In sozialen Medien wird es als einseitig kritisiert, weil es in dem Brief heißt: „Wir als Verhandlungsteam empfehlen Dir aus Überzeugung, mit JA zu stimmen.“ Ex-NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans meinte dazu im Kurznachrichtendienst Twitter: „Wie freundlich, dass das Komma nicht auch noch um zwei Wörter nach vorn gerückt worden ist ... So was macht man nicht.“ Wäre dies der Fall gewesen, würde sich der Satz wie ein Befehl lesen: „Wir als Verhandlungsteam empfehlen Dir, aus Überzeugung mit JA zu stimmen.“