New York, eine schweigende Weltstadt

Es ist das Schweigen. Die Stille über der Stadt, selbst an den belebtesten Plätzen, am Times Square, am Bahnhof Grand Central, in den Glitzerpassagen der Fifth Avenue. Sechsmal pausiert New York, jeweils für 60 Sekunden, jedes Mal eingeläutet durch das Bimmeln einer Feuerwehrglocke am Ground Zero.

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Es ist das Schweigen. Die Stille über der Stadt, selbst an den belebtesten Plätzen, am Times Square, am Bahnhof Grand Central, in den Glitzerpassagen der Fifth Avenue. Sechsmal pausiert New York, jeweils für 60 Sekunden, jedes Mal eingeläutet durch das Bimmeln einer Feuerwehrglocke am Ground Zero.

New York schweigt um 8.46 und 9.03 Uhr, als Terroristen vor zehn Jahren gekaperte Flugzeuge in die Zwillingstürme jagten. Um 9.59 und 10.28 Uhr, als die Türme einstürzten. Und zwischendurch, um der Toten im brennenden Pentagon zu gedenken sowie der Passagiere, die den Mut zur Revolte fanden und deren entführte Maschine auf einem Acker in Pennsylvania zerschellte. Für sechs Minuten hält sie inne, die sonst so hektische Metropole, nicht nur am Ground Zero, wo die Dudelsackkapellen aufmarschiert sind zur zentralen Trauerzeremonie.

Hinterbliebene verlesen die Namen der Toten, von Gordon Aamoth bis Igor Zukelman, so wie seit 2002 an jedem 11. September. Nur stehen sie nicht mehr tief in einer Baugrube wie früher, sondern auf Straßenniveau vor den beiden Brunnenvierecken einer neuen Gedenkstätte. Ringsum halbfertige Wolkenkratzer, geschmückt mit Sternenbannern.

Eine Liste mit beinahe 3000 Namen

Lucy Paterson liest zum ersten Mal aus der Namensliste. Sie war vier, als ihr Vater starb. Steve Paterson handelte mit Staatsanleihen für Cantor Fitzgerald, eine Firma, die die Stockwerke 101 bis 105 des Nordturms gemietet hatte und an einem Tag 658 Mitarbeiter verlor. „Dad, ich habe nicht aufgehört, dich zu vermissen“, sagt Pete Neg-ron, ein 21 Jahre alter Student. Sein Vater war Umweltwissenschaftler bei der Hafenbehörde, der Sohn will Forensiker werden.

Kugelsicheres Glas schützt zwei Präsidenten, Barack Obama und George W. Bush, und ihre Frauen Michelle und Laura. Obama zitiert Bibelverse, dies ist nicht die Stunde für politische Reden. Was er politisch zu sagen hat, hat er tags zuvor in einer kurzen Rundfunkansprache zusammengefasst. El Kaida habe Amerika in einen endlosen Krieg ziehen wollen, aber während das Land El Kaida unter Druck halte, beende es den Krieg im Irak und beginne, Soldaten aus Afghanistan nach Hause zu holen. „Amerika ist stärker, El Kaida ist auf dem Weg in die Niederlage.“

Bush spricht vom Brief des legendären Abraham Lincoln an eine Mutter, deren fünf Söhne auf den Schlachtfeldern des amerikanischen Bürgerkriegs fielen. Rudy Giuliani, an 9/11 der nervenstarke, beruhigende Bürgermeister New Yorks, belässt es bei wenigen, religiös geprägten Worten. Alles habe seine Zeit, das Töten und die Heilung, das Weinen und das Lachen, das Trauern und das Tanzen. „Gott schütze die Vereinigten Staaten von Amerika“, endet Giuliani. Yo-Yo Ma spielt Cello nach Noten von Bach. Paul Simon singt „Sounds of Silence“. Der Himmel ist bedeckt, nur ab und zu Sonnenstrahlen, nicht zu vergleichen mit dem strahlenden Blau des 11. Septembers 2001.

Am Bryant Park, einem der beliebtesten Treffpunkte der Metropole, stehen 2753 leere Klappstühle, so viele, wie Menschen in den Twin Towers starben. Im Battery Park, an der Südspitze Manhattans, wehen 2753 US-Flaggen, Stars and Stripes, 2753 dicht aneinandergereihte Namen anstelle der roten Streifen der Stripes. Überall Polizei, überall Betonblöcke und Absperrgitter, überall das Knattern von Hubschraubern. Auf der Brooklyn Bridge ist in Richtung Manhattan nur eine Spur frei. Stichprobenartig kontrollieren Polizisten, wer in den langsam dahinrollenden Autos sitzt. Dennoch, New York wirkt nicht wie eine Stadt, die sich durch die seit Donnerstag zirkulierenden Warnungen vor einer Autobombe aus der Balance kippen ließe. Irgendwo zwischen Neugier und Nervosität schwankend, mustert Christine Pagan einen Pulk von Nationalgardisten in ihren gescheckten Uniformen. „Die siehst du selten, es muss was dran sein an dem Alarm.“ Aber Terrorangst? „Du gewöhnst dich dran. Ist eben New York. Wenn du immer gleich in Panik gerätst, musst du dir eine andere Stadt suchen.“

Gary Suson verbringt den Tag zwischen seinen Bildern. Ein Schuh im Schutt. Ein Bruchstück vom Stahlskelett der Türme, zufällig so herausgetrennt, dass es aussieht wie ein Kreuz. Suson, von der Gewerkschaft der Feuerwehr zum offiziellen Ground-Zero-Fotografen bestimmt, war acht Monate in der Grube. Seine besten Aufnahmen hängen heute in einem Hinterhofzimmer im kreativ-schicken Meatpacking District. In einer Ecke eine Wanduhr mit Sekundenzeiger, auf der die Zeit stehen geblieben ist, bei zehn Uhr, zwei Minuten und 14 Sekunden. Es war der Moment, als im South Tower der Strom ausfiel, unmittelbar vor dem Einsturz. Suson durfte die Uhr aus der Schuttwüste mitnehmen. Auf einem seiner Fotos laufen zwei Feuerwehrmänner, Ralph und Mike Geidel, mit müden, dreckverkrusteten Gesichtern durch die Trümmerlandschaft. Neun Monate suchten sie nach ihrem vermissten Bruder Gary, ohne die Leiche zu finden. Ralph erkrankte nach dem Einsatz an Kehlkopfkrebs. Gary Suson spendet einen Teil seiner Museumseinnahmen, damit Geidel seine Medikamente bezahlen kann.

Wunsch nach Rache ist überholt

Daniel Simons ist ein gefragter Mann, belagert von Fernsehteams. Seine kleine Kirche steht im Mittelpunkt. An 9/11 wollte Simons in Boston am Flughafen einchecken, auf demselben Logan Airport, von dem zwei der vier Terroristengruppen am Morgen gestartet waren. Er kam nicht über das Parkhaus hinaus. Seit 2009 ist er Pfarrer der St. Paul's Chapel, eines Gotteshauses, das ans World Trade Center grenzte und wie durch ein Wunder heil blieb, als die Türme fielen. Simons spricht vom kollektiven 9/11-Trauma. „Dann sind wir einfach losgestürmt, um jemanden zusammenzuschlagen und Trost zu empfinden“, sagt er. Mancher stecke noch immer fest in den Emotionen von Revanche und Vergeltung, glaubt der Geistliche. So könne man nicht mehr leben in New York. „In New York musst du lernen, einen Strich unter dieses Kapitel zu ziehen.“

Frank Herrmann