Rheinland-Pfalz

Hundertjährige: Das Leben ist schön

Soziale Kontakte
Soziale Kontakte bereichern das Leben – auch im hohen Alter. Den Senioren, die hier auf einer Parkbank sitzen, ist es wichtig, Kontrolle über ihren Alltag und ihre Entscheidungen zu behalten. Foto: dpa

Alt wie Methusalem – das wird künftig eine realistische Lebensperspektive sein: Jedes zweite Kind, das nach dem Jahr 2000 geboren wurde, hat gute Chancen, seinen 100. Geburtstag zu feiern. Schöne Aussichten?

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Rheinland-Pfalz – 100 Jahre alt zu werden, wird künftig eine realistische Lebensperspektive sein. Allein zwischen den Jahren 2000 und 2010 stieg die Zahl der Hochbetagten in Deutschland laut der Human Mortality Database von 5937 auf 13 198. Das entspricht einer Zunahme von 122 Prozent. Wissenschaftler der zweiten Heidelberger Hundertjährigen-Studie sagen sogar: Jedes zweite Kind, das nach dem Jahr 2000 geboren wurde, hat gute Chancen, seinen 100. Geburtstag zu feiern. Schöne Aussichten?

Von Birgit Pielen

Dass immer mehr Menschen alt wie Methusalem werden, bedeutet nicht, dass sie stärker eingeschränkt sind. Zwar ist keiner der heute Hundertjährigen kerngesund, aber: Sie sind fitter als die Höchstaltrigen, die 2001/2002 in der ersten Heidelberger Hundertjährigen-Studie befragt wurden. Die heute Hochbetagten können besser ihre Geldangelegenheiten regeln, Mahlzeiten zubereiten oder telefonieren.

Das Zusammensein mit der Familie macht zufriedener

Jeder Dritte, den die Heidelberger Forscher 2011/12 befragt haben, erhält Pflegestufe II, jeder Zehnte Pflegestufe III. Und mehr als ein Drittel sind kognitiv deutlich eingeschränkt oder von Demenz betroffen. Die meisten klagen über Seh- und Hörprobleme (88 Prozent). 67 Prozent gaben an, schon einmal gestürzt zu sein. Im Durchschnitt hat jeder Hundertjährige vier Erkrankungen. Es wird also in Zukunft auch darum gehen, gesundheitliche Einschränkungen bei Aktivitäten im Alltag möglichst gering zu halten. Die Heidelberger Forscher sagen sogar: „Durch gezielte Interventionen für mehr Selbstständigkeit ist es vermutlich in höherem Ausmaß als bisher möglich, Pflegebedürftigkeit auch bei Hundertjährigen abzuschwächen oder sogar zu vermeiden.“

Trotz Einschränkungen sind 80 Prozent der Befragten zufrieden mit ihrem Leben. Kontrolle über ihren Alltag und ihre Entscheidungen zu behalten, ist für ihre Lebensqualität wichtiger als körperliche Gesundheit. Entgegen der Erwartung, dass sehr alte Menschen zumeist auf Hilfe in Pflegeeinrichtungen angewiesen sind, leben 59 Prozent der in der Heidelberger Studie Befragten in Privathaushalten, ein Drittel von ihnen sogar ganz allein.

Häufig betreuen die eigenen Kinder die Senioren, für die meisten der Befragten sind Sohn oder Tochter die Hauptbezugspersonen. Deutlich wurde auch: Hundertjährige, die mit Familienmitgliedern zusammenwohnten, sind zufriedener. Sie erleben Gespräche mit der jüngeren Generation als sinnstiftend. Auch die Ziele, die sich Senioren setzen, beziehen sich zumeist auf die Familie: Sie wollen beispielsweise erleben, dass das Eigenheim des Enkelkindes fertig gebaut wird, oder seine Hochzeit mitfeiern.

Darüber hinaus zeigt die Studie ein neues Phänomen: Nicht nur die Zahl der Hochaltrigen nimmt zu. Auch die pflegenden Kinder kommen in die Jahre. 54 Prozent der Hundertjährigen haben ein Kind im Alter von über 70 Jahren. Damit wird auch klar, dass es für Hochbetagte nur bedingt eine realistische Option ist, auf das Kind als Pflege- oder Betreuungskraft zu setzen.

Der Tod ist für die alten Menschen ein elementares Thema

Zugleich gibt es bei den Hundertjährigen eine ungewöhnliche Offenheit, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. „Das Lebensende ist für sie ein elementares Thema“, sagen die Forscher der Heidelberger Studie. „Es besteht keinerlei Sprachlosigkeit.“ Die gibt es höchstens seitens der Angehörigen. 86 Prozent der Befragten sagten, dass sie den Tod nicht als bedrohlich empfinden. 10 Prozent haben Angst davor, mit Schmerzen sterben zu müssen oder in der letzten Phase des Lebens doch noch zu einer starken Belastung für die Angehörigen zu werden. Weitere 6 Prozent hoffen, in der letzten Stunde nicht allein sein zu müssen.

Gleichzeitig verspüren die meisten Hundertjährigen aber keinerlei Todessehnsucht – im Gegenteil: 72 Prozent wollen noch nicht sterben. Sie verspüren einen starken Lebenswillen. Nur 12 Prozent sagen: „Es ist nicht mehr schön, es reicht jetzt.“ In vielen Fällen spielt Einsamkeit dabei eine große Rolle. Die Heidelberger Wissenschaftler schlussfolgern, dass Hundertjährige die Möglichkeit haben müssen, am sozialen Leben teilzunehmen. Der Blick auf den Menschen darf nicht von Verlusten dominiert sein, sondern muss sich auf die Potenziale richten.

Noch ist unklar, was Menschen uralt werden lässt. Sind es die Gene, ist es die Umgebung – oder beides? Fest steht: Die Methusalems leben häufig in Metropolen – und nicht etwa inmitten gesunder Landluft, wie man vermuten könnte. Das haben Forscher des Max-Planck-Instituts für demografische Entwicklung in Rostock herausgefunden. Laut Wissenschaftler Sebastian Klüsener liegt es daran, dass in Städten der Zugang zu medizinischer Versorgung besonders gut ist. Das gilt auch für Rheinland-Pfalz. Rein statistisch betrachtet, ist die Chance, in Mainz 100 Jahre und älter zu werden, dreimal so hoch wie beispielsweise im Rhein-Hunsrück-Kreis.

Deutschlands Hochburg der Hundertjährigen ist übrigens Hamburg: Dort leben 70 Prozent mehr Hochaltrige als im Durchschnitt. Auch Berlin ist beliebt bei Betagten.

Lebensmittelpunkte sind am Anfang und am Ende fast identisch

Überrascht haben die Rostocker Forscher auch festgestellt: Viele der heute Hochbetagten sterben dort, wo sie geboren wurden – oder höchstens 25 Kilometer davon entfernt. Klüsener sagt: „Obwohl das 20. Jahrhundert voller Turbulenzen und Verwerfungen war, sind die Lebensmittelpunkte zu Beginn und zum Ende des Lebens oft fast identisch.“ Sesshaftigkeit und Heimatverbundenheit scheinen also zumindest stabilisierende Faktoren für ein hohes Alter zu sein.