Berlin

Die Jüngsten inmitten der Krise: Drei Polit-„Küken“ blicken auf 2011 zurück

Selbst für alte Hasen des Politbetriebs war das Jahr 2011 bewegt wie kaum ein anderes zuvor. Die jüngsten Abgeordneten ihrer Fraktionen – Florian Bernschneider (FDP, 25), Sven-Christian Kindler (Grüne, 26) und Daniela Kolbe (SPD, 31) – hätten sich bei ihrem Einzug in den Bundestag 2009 auch nicht träumen lassen, dass sie über gigantische Rettungsschirme für Europa würden abstimmen müssen. Wir haben sie interviewt.

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Berlin – Selbst für alte Hasen des Politbetriebs war das Jahr 2011 bewegt wie kaum ein anderes zuvor. Die jüngsten Abgeordneten ihrer Fraktionen – Florian Bernschneider (FDP, 25), Sven-Christian Kindler (Grüne, 26) und Daniela Kolbe (SPD, 31) – hätten sich bei ihrem Einzug in den Bundestag 2009 auch nicht träumen lassen, dass sie über gigantische Rettungsschirme für Europa würden abstimmen müssen. Wir haben sie interviewt.

Ist es Nachteil oder Vorteil, der Jüngste zu sein?

Bernschneider: Das sind Fragen, die die Öffentlichkeit immer sehr interessieren, im normalen Parlamentsbetrieb spielen sie aber gar keine Rolle. Die Kollegen gewöhnen sich schnell daran, dass auch Jüngere dabei sind. Diejenigen, die das vielleicht am Anfang noch lustig fanden, merken spätestens bei der ersten Abstimmung, dass meine Stimme ebenso viel wert ist wie ihre.

Wie ist das bei Ihnen, Frau Kolbe?

Kolbe: Ich würde es eher als Vorteil sehen, was aber auch an der SPD-Fraktion liegt, die im Schnitt etwas älter ist als die FDP-Fraktion. Die Kollegen freuen sich, dass ein paar Jüngere mit dabei sind. Außenstehende denken oft, man würde nicht so ernst genommen. Das ist aber nicht der Fall. Die Fraktionen sind darauf angewiesen, dass sich alle spezialisieren und mitarbeiten.

Wird der Jüngste auch mal speziell nach seiner Sicht gefragt?

Kindler: Es geht immer um Kompetenz und nicht um das Alter.

Was war für Sie die wichtigste Entscheidung 2011?

Kolbe: Wir leben schon in sehr heftigen Zeiten. Ich hätte das ehrlich gesagt nicht erwartet, als ich für den Bundestag kandidiert habe, dass Entscheidungen von solcher Tragweite auf mich, auf uns zukommen. Ich habe den Eindruck, dass wir in einer Welt leben, die sich generell sehr stark verändert. Für 2011 ist das natürlich die Euro-Krise auf der einen Seite, mit allen Entscheidungen, die daran hängen. Auf der anderen Seite gab es das Unglück von Fukushima und danach den erneuten Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland. Für mich sind das die beiden Themen, die mit einer Heftigkeit kamen, dass sie mir noch lange in Erinnerung bleiben werden. Tagtäglich beschäftigt mich jetzt auch der Rechtsterrorismus.

Bernschneider: Man fragt ja als Jüngerer auch ältere Kollegen nach ihrer Bewertung. Und auch sie sagen, dass sie in ihrer Zeit im Parlament noch nicht so bewegte Zeiten erlebt haben. Ich würde den Arabischen Frühling noch dazuzählen, auch wenn er noch keine Entscheidungen in unserem Parlament nach sich gezogen hat. Wir haben in diesem Jahr aber auch die Wehrpflicht ausgesetzt. Das hat meine Arbeit stark geprägt.

Kindler: Der Super-GAU in Fukushima war auch für mich einschneidend. Aber das war auch die Nazi-Mordserie. Außerdem bin ich Mitglied im Haushaltsausschuss. Dass wir teilweise vier bis fünf Sondersitzungen pro Woche haben würden, bis tief in die Nacht tagen und Antworten suchen auf Fragen, wie man die Euro-Zone zusammenhalten kann – damit habe ich vorher nicht gerechnet.

Sie alle mussten über gigantische Rettungsschirme abstimmen. Deutschland lädt sich damit auch Schulden auf. Welche Rolle spielt Generationengerechtigkeit für Sie?

Kolbe: Ich hatte beim EFSF das Gefühl, dass das eine wirklich notwendige Entscheidung ist. Den unter Druck geratenen europäischen Staaten die Möglichkeit zu geben, von den Kapitalmärkten wegzukommen, um wieder an Geld zu kommen und umschulden zu können – das habe ich als sinnvoll empfunden. Man kann das der Bevölkerung aber nur sehr schwer erklären, niemand kann sich diese Summen mehr vorstellen. Es ist absurd: Auf der einen Seite kämpfe ich für 3,5 Millionen für die Bundeszentrale für politische Bildung im Haushalt und bekomme sie nicht. Auf der anderen Seite stimmen wir über 211 Milliarden Euro ab.

Bernschneider: Aber man muss sich doch auch fragen: Was passiert, wenn ich diese Entscheidungen nicht treffe? Und wenn ich das Szenario durchspiele, dann sind die Folgen für meine Generation, glaube ich, wesentlich härter als das Risiko, das dahintersteht, wenn wir für 211 Milliarden Euro bürgen. Wir Parlamentarier werden häufig gefragt, wie wir uns dabei fühlen, wenn wir über so viel Geld abstimmen. Wir werden aber nicht mehr so häufig gefragt, wie wir uns dabei fühlen, wenn wir Soldaten in einen Auslandseinsatz schicken. Bei Ersterem geht es „nur“ um Geld, bei dem anderen um Menschenleben. Das sollte man nicht vergessen.

Kindler: Ich glaube auch, dass Auslandseinsätze zu den schwersten Entscheidungen gehören, die wir treffen müssen. Aber meine Emotionen sind auch beim Thema Europa groß, weil ich mir große Sorgen mache. Wir sind die erste Generation, die wirklich europäisch aufgewachsen ist. Ich kann mich an den Mauerfall gar nicht aus eigener Erfahrung erinnern. Damals war ich vier Jahre alt. Ich habe das Europa der freien Grenzen kennengelernt.

Wir können überall hin, wir können überall studieren und arbeiten. Wenn der Euro scheitert, wird das eine existenzielle Krise für Europa. Wir sind heute in der Situation, dass wir wissen, dass der EFSF mit all seinen Hebeln nicht so funktioniert, wie er sollte. Deshalb brauchen wir europäische Anleihen, Euro-Bonds, um die Euro-Zone zu stabilisieren.

Das sehen Sie vermutlich anders, Herr Bernschneider?

Bernschneider: Ich bin der 100-prozentigen Überzeugung, dass man die Fehler, die passiert sind, nicht einfach wiederholen sollte. Ein Grund, warum wir in diese Krise geraten sind, ist ja, dass die Frage der Zinsregulierung und damit eine ökonomische Schuldenbremse außer Kraft gesetzt wurden. Länder wie Griechenland und Italien konnten sich zu günstig refinanzieren. Jetzt Euro-Bonds und damit wieder so eine Art Zinssozialismus einzuführen, halte ich für fatal.

Kolbe: Da muss ich widersprechen.

Bernschneider: Klar.

Kolbe: Die Staaten sind ja nicht grundlos hoch verschuldet. Ein Grund ist sicher mangelhafte Haushaltspolitik über Jahrzehnte. Sie sind aber auch deshalb hoch verschuldet, weil sie nach der Banken- und Finanzkrise 2008 mit Milliardensummen versucht haben, Banken zu retten, die Wirtschaft anzukurbeln und Arbeitsplätze zu sichern. Im Moment versuchen die Finanzmärkte immer noch, einzelne Staaten zu isolieren und zum Spielball zu machen und Zinsanforderungen für Anleihen in schwindelerregende Höhen zu treiben.

Wir dürfen nicht sagen: Wir lassen den Markt über Wohl und Wehe von Staaten entscheiden, sondern wir müssen als Europa zusammenstehen und den Finanzmärkten zeigen, dass sie gegen uns gemeinsam keine Chance haben. Ich habe den Eindruck, dass unsere Bundesregierung immer hinterherläuft und dann erst das Notwendige tut.

Würden Sie unter den Jüngeren einen Pakt gründen, um die sozialen Sicherungssysteme für die nachfolgenden Generationen zu sichern?

Kindler: Wir haben uns ausgetauscht darüber, dass wir das tun sollten. Bisher ist aber nichts passiert. Das Problem beginnt schon damit, dass wir definieren müssen, was Generationengerechtigkeit bedeutet. Und da ist man schnell unterschiedlicher Meinung. Wir haben auch eine große soziale und ökologische Verschuldung, die wir nachfolgenden Generationen hinterlassen. Wir dürfen unseren Kindern und Enkeln keinen verwüsteten und ausgeplünderten Planeten hinterlassen.

Was wäre denn Ihre Vorstellung von Generationengerechtigkeit?

Bernschneider: Die Jusos haben sogar beschlossen, dass sie gegen eine Schuldenbremse sind. Das käme für mich als Liberaler nie infrage. Ich sage, dass wir diese Schuldenfrage beherzter anpacken müssen, als wir es in der Vergangenheit getan haben.

Würden Sie den Jusos auch widersprechen, Frau Kolbe?

Kolbe: Ich sehe die Schuldenbremse auch kritisch, weil sie die Handlungsfähigkeit des Staates stark einschränkt. Aber natürlich ist es vernünftig, nicht einfach weiter Schulden zu machen. Zur Generationengerechtigkeit gehört aber mehr. Zum Beispiel ein funktionierendes Gemeinwesen zu hinterlassen, einen handlungsfähigen Staat, eine Natur, in der es sich lohnt zu leben. Man muss nachfolgenden Generationen die Möglichkeit lassen, in einem ähnlichen Wohlstand zu leben wie wir das tun. Dazu gehört, dass wir in Bildung und in die Sozialsysteme investieren. Da finde ich den Weg der SPD richtig: Die Staatsschulden sind in der Vergangenheit gestiegen, aber die privaten Vermögen eben auch. Gleichzeitig ist die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergegangen. Breite Schultern müssen deshalb mehr beitragen als bisher. Das halte ich für besser als 6 Milliarden Euro Steuerentlastung, die der Einzelne nicht merkt, die aber den Staatshaushalt belasten.

Bernschneider: Mein Gefühl ist ein genau gegenteiliges, wenn ich mir Ihren Bundesparteitag angucke. Gerhard Schröder hat doch sehr wichtige und richtige Reformen eingeleitet. Das war ein wichtiger Schritt auch für uns Jüngere, die sozialen Sicherungssysteme standhaft zu machen. Und all das, was die SPD richtig gemacht hat, will sie jetzt wieder zurückdrehen.

Kolbe: Das stimmt doch nicht.

Bernschneider: Die Rente mit 67 will die SPD ja wohl nun doch nicht. Da frage ich mich schon: Was hat das damit zu tun, die sozialen Sicherungssysteme für die Zukunft zu sichern?

Kindler: Wir wollen ja wie die SPD eine solidarische Bürgerversicherung in der Gesundheit und in der Pflege. Das führt dazu, dass wir alle Einkommen – auch hohe Verdienste und Kapitaleinkommen – bei der Bemessung gleich behandeln. Euer Weg ist doch der, dass ihr Lebensrisiken privatisieren wollt. Man sieht: Bei den großen Fragen folgen wir alle unserer politischen Orientierung, deshalb können wir keinen gemeinsamen Ansatz formulieren.

Was erwarten Sie 2012?

Kolbe: Prognosen sind gerade schwierig. Neuwahlen vielleicht?

Bernschneider: Wohl eher nicht. Die Euro-Krise wird uns weiter bewegen, aber ich hoffe, in einem neuen Stadium. Die Schlaglichter sollten Lehren aus der Krise sein.

Kindler: Ich glaube, wenn es keinen echten Kurswechsel in Europa gibt, dass wir wir weiter von Krisengipfel zu Krisengipfel taumeln. Und die größte Krise dieses Jahrhunderts, nämlich der Klimawandel, gerät total in den Hintergrund. Das ist die eigentliche Megakrise, genau wie die Welthungerkrise.

Sie hätten jetzt Gelegenheit für ein optimistischeres Schlusswort …

Bernschneider: Erst mal ist diese Zeit zwischen den Jahren unheimlich wichtig. Sie gibt uns die Gelegenheit, einmal die Zeitung aus der Hand zu legen und zu überlegen, wie die Krisen zusammenhängen. Und vielleicht auch die Chancen dahinter zu sehen.

Kolbe: Die Sommerpause in diesem Jahr kannte weder einen Sommer noch eine Pause, deshalb freue ich mich über die Weihnachtspause. Ich freue mich aber auch auf 2012. Es ist eine tolle Aufgabe, Abgeordnete zu sein – trotz aller Krisen.

Kindler: Darauf freue ich mich auch: in der Winterpause Zeit für Freunde und Familie zu haben und 2012 weiter unsere Gesellschaft mitzugestalten.

Das Gespräch führten unsere Berliner Korrespondentinnen Rena Lehmann und Eva Quadbeck