Bahn-Chaos: Wenn der Heimweg Glückssache ist

Der Mainzer Hauptbahnhof am Montagnachmittag. Gespenstische Leere macht sich auf den Bahnsteigen breit, wo normalerweise Geschiebe und Gedränge herrschen. Normalerweise setzt um diese Uhrzeit der Feierabendverkehr ein, Hunderte Berufspendler wollen nach Hause. Normalerweise.

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Von Dominic Schreiner

Doch jetzt ist kein einziger Zug weit und breit zu sehen, und nur eine Handvoll Optimisten sitzt quer über alle Bahnsteige verteilt auf den eisernen Wartebänken und übt sich in Geduld. Was sofort auffällt: Es ist still, sehr still.

Dann dröhnt laut und deutlich die Stimme der Durchsage durch die ungewohnte Ruhe: „Regionalbahn 38763 nach Worms fällt heute aus.“ Und jetzt spult die Bahn-Mitarbeiterin eine ganze Reihe an Verbindungen und Zugnummern herunter, so viele sind es, dass man leicht den Überblick verlieren kann. Wenigstens das Ende jeder Einzeldurchsage kann man gut verstehen, denn es wiederholt sich ständig: „... fällt heute aus.“

An Gleis 4 sitzt Matthias Halfmann. „Natürlich habe ich Zeit für ein Gespräch, viel Zeit sogar“, sagt er mit einem Grinsen im Gesicht. Seit 15 Jahren arbeitet Halfmann beim Landeskriminalamt (LKA) in Mainz, seit 15 Jahren pendelt er täglich mit der Bahn zu seiner Arbeitsstelle. Um 6.15 Uhr ist er morgens in Ockenheim losgefahren.

„Morgens hat man Glück, zumindest wenn man so früh unterwegs ist“, sagt er fast entschuldigend. Das Problem ist der Rückweg: Seit mehr als einer Woche braucht Halfmann jeden Tag mindestens 60, wenn nicht sogar 90 Minuten länger für den Heimweg. „Ich habe ein Jobticket, 1100 Euro musste ich im Voraus für ein Jahr bezahlen.Jetzt versuchen Sie mal, Ansprüche gegen die Bahn geltend zu machen – das können Sie vergessen“, ärgert er sich. Denn tatsächlich müssen Zeitkarteninhaber, zumindest im Nahverkehr, mindestens drei Verspätungen sammeln, sie schriftlich einreichen, können dann auf 1,50 Euro pro Verspätung hoffen.

Halfmann zeigt sich dennoch versöhnlich: „Ab Donnerstag habe ich ein paar Tage Urlaub. Vielleicht hat sich ja nach meinem Urlaub was geändert. Aber so wirklich glaube ich nicht dadran.“ Ein paar Meter weiter steht Matthias Beier, raucht und lauscht gebannt der nächsten Ansage, die die nächsten Zugausfälle bekannt gibt.

„Ausgerechnet jetzt wohne ich einen Monat lang in Mainz, weil ich beruflich am Theater Wiesbaden zu tun habe“, erzählt Beier. Schon die Verbindung auf der verhältnismäßig kurzen Strecke zwischen den beiden Landeshauptstädten ist ausgedünnt. „Wenn gar nichts geht, steige ich auf den Bus um. Aber die Busse sind so voll, dass man definitiv keinen Sitzplatz mehr findet.“ Und dann schiebt Beier noch hinterher: „Es ist ja schön, dass es Gewerkschaften gibt, aber es ist schwach, dass die Eisenbahner- Gewerkschaft die Verantwortung für diese Zustände nicht wenigstens zum Teil mitträgt. Es wäre einfach nur menschlich gewesen, wenn sie ihre Leute in so einer Situation ausnahmsweise aus dem Urlaub zurückgeholt hätten.“

Dann hellt sich seine Miene wieder auf, denn Beier hat Glück. Ein Zug fährt in den leeren Bahnhof ein: Es ist seiner, der nach Wiesbaden. Unterdessen steht Wilhelm Feil mit seiner Aktentasche in der Hand in der Bahnhofshalle und starrt angestrengt auf den dort ausgehängten Notfahrplan für seine Strecke. „Wir können uns nur ein Auto leisten, und das braucht meine Frau“, sagt Feil leise.

Also muss er täglich von Worms nach Mainz zu seiner Arbeitsstelle pendeln. Feil bekommt die Nachteile schon auf der Hinfahrt zu spüren: „Wenn ich nicht den Zug um 6 Uhr kriege, fährt dann zwei Stunden nichts mehr. Dann komme ich erst mittags ins Büro. Und das kann ich mir nicht leisten“, erklärt er. In diesem Moment schaltet sich ein Passant ein. „Ich bin Bahn-Mitarbeiter. Auch ich muss jeden Tag pendeln, nach Frankfurt in die Konzernzentrale.“

Der Bahner möchte namentlich nicht genannt werden, aber seinem Ärger über seinen Arbeitgeber Luft machen. „So viele Verspätungen wie in den vergangenen neun Monaten habe ich in den vergangenen zehn Jahren ja nicht erlebt, jeden Tag um die 45 Minuten! Aber das war ja abzusehen: Verfehlte Investitionspolitik, marode Züge, überall wird gespart.“

Das momentane Desaster kann selbst der Insider nicht verstehen: „Allein die Strecke Mainz–Frankfurt, da wird doch viel Geld verdient, wenn man sich nur mal die vollen Züge anschaut.“ In seiner Freizeit könne er sich aktuell jedenfalls des Spotts seines privaten Umfelds sicher sein. „Wir schämen uns für unseren Arbeitgeber. Das geht allen meiner Kollegen so.“ Wilhelm Feier steht derweil geduldig daneben, lauscht der nächsten Durchsage, lächelt ein wenig.

„Den 13er könnte ich heute ausnahmsweise bekommen.“ Und während er zum Bahnsteig aufbricht, sagt er: „Ich versuche mal mein Glück.“