Andrea Nahles ringt um den Mindestlohn

Andrea Nahles
Andrea Nahles Foto: dpa

Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn ist eines der wichtigsten Projekte der SPD in dieser Bundesregierung, die Bundesarbeitsministerin muss ihn durchsetzen. Die Unternehmen werden dafür jährlich etwa 10 Milliarden Euro mehr für Lohn ausgeben müssen, sagt Andrea Nahles im Interview mit unserer Zeitung.

Lesezeit: 6 Minuten
Anzeige

Wir trafen sie zwischen den Verhandlungen mit dem Koalitionspartner CDU im Berliner Arbeitsministerium zum Gespräch. Nächsten Donnerstag soll der Bundestag das Gesetz beschließen. Für Saisonarbeitskräfte und Zeitungszusteller soll es Sonderregelungen geben, und auch für Praktikanten haben Union und SPD am Freitag noch einmal nachverhandelt. Das Interview mit der Arbeitsministerin:

Machen Sie sich gerade in der SPD unsterblich, weil Sie als die Ministerin in die Geschichte eingehen, die den flächendeckenden Mindestlohn in Deutschland eingeführt hat?

(lacht) Ich fürchte, da reicht der Mindestlohn nicht aus. Doch ich bin gerade 44 Jahre alt geworden und habe noch viel vor. Dass dazu auch gehört, den Mindestlohn durchzusetzen, ist aber sicher etwas ganz Besonderes.

Kann er wie geplant am nächsten Donnerstag verabschiedet werden?

Die Verhandlungen mit dem Koalitionspartner sind erfolgreich beendet. Die Koalition hat an dieser Stelle gezeigt, dass sie handlungsfähig ist und große Dinge bewegen kann. Bis Anfang der Woche werden wir die Details jetzt ausarbeiten. Aber klar ist: Der Mindestlohn kommt. Wahr ist auch: An einigen Stellen haben wir hart verhandeln müssen, aber das ist völlig normal bei einem so großen Gesetz. Es ist schließlich etwas ganz Neues, viele sind davon berührt und fragen sich, was das für sie bedeutet. Deswegen waren wir seit Monaten im engen Dialog mit den Branchen und Sozialpartnern.

Wie viel der Mindestlohn die Unternehmen kosten wird, haben Sie bisher nicht gesagt …

3,7 Millionen Menschen werden durch den Mindestlohn höhere Löhne bekommen. Das führt natürlich zu höheren Lohnkosten. Man kann das nur schätzen und muss dabei bestimmte Annahmen setzen. Wir gehen von einer Lohnerhöhung von rund 10 Milliarden Euro über alle Branchen hinweg für all diejenigen aus, die bisher am untersten Rand der Lohnskala standen. Das ist ganz ordentlich und klingt erst mal viel.

Ist es das nicht?

Wenn man es vergleicht, dann sind es gerade mal 0,7 Prozent der gesamten Bruttolohn- und Gehaltssumme. Allein der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst in diesem Jahr macht zusätzlich 5 Milliarden Euro aus. So relativiert sich die Zahl dann doch. Aber es ist klar: Wenn die Menschen durch das Gesetz mehr in der Tasche haben – ob 50 Cent oder 2 Euro -, dann kostet das was.

Wenn es so harmlos ist: Warum haben Sie die Zahl nicht gleich in den Gesetzentwurf mit reingeschrieben?

Eine belastbare Prognose zu den entstehenden Kosten war und ist extrem schwierig. Es kann nur eine grobe Schätzung sein. Und man muss damit umgehen, dass man Reaktionen in den Branchen, in einzelnen Unternehmen und bei Beschäftigten, dass man Veränderungen in den Marktkonstellationen nicht im Vorhinein kennt. Wir sind gebeten worden, trotz dieser unvermeidbaren Unsicherheiten eine Größe zu schätzen, dem sind wir nachgekommen.

Ist die Summe von 10 Milliarden Euro nicht Wasser auf die Mühlen derer, die vor dem Wegfall von 900.000 Jobs warnen?

Nein. Es gibt keine nachweisbaren negativen Auswirkungen für den Arbeitsmarkt. Das wissen wir auch deshalb, weil wir in den vergangenen Jahren Branchenmindestlöhne für drei Millionen Menschen in Deutschland eingeführt und die Arbeitsmarktwirkungen dort sehr genau evaluiert haben. Wenn der Mindestlohn für alle gilt, die in einer Branche tätig sind, dann kann eben der Bäcker um die Ecke keinen Vorteil daraus ziehen, dass er weniger Lohn zahlt als sein Kollege eine Straße weiter. Wir werden durchsetzen und mit Kontrollen dafür sorgen, dass der Mindestlohn überall gezahlt wird. Wir schaffen in den nächsten zwei Jahren 1600 zusätzliche Stellen in der Schwarzarbeitskontrolle des Zolls, damit wir Lohndumping zulasten der Arbeitsplätze bei ehrlichen Arbeitgebern wirksam verhindern können.

Bleiben Sie bei der Zusage, dass es beim Mindestlohn von 8,50 Euro ab 2017 keine Ausnahmen geben wird?

Ja. Branchen können über einen Tarifvertrag mit Lohnuntergrenzen, die über das Entsendegesetz allgemeinverbindlich erklärt sind, die ersten zwei Jahre unterhalb von 8,50 Euro bezahlen. Sonst soll es für einzelne Branchen keine Ausnahmen geben. Das ist auch angekommen: Die Fleischer und die Friseure haben Tarifverträge geschlossen. Das Hotel- und Gaststättengewerbe, die Land- und Forstwirtschaft und die Taxifahrer sind in Verhandlungen. Das war bisher undenkbar! Der Mindestlohn wirkt heute schon in Branchen, in denen früher keiner miteinander gesprochen hat. Bei der Zeitungsbranche müssen wir ganz besonders sensibel sein. Da gibt es Riesenumbrüche und Sonderbelastungen, die Pressefreiheit ist grundgesetzlich in herausgehobener Weise geschützt. Wir müssen sicherstellen, dass auch im ländlichen Raum, wo die Vertriebswege komplizierter und teurer sind, morgens noch eine Zeitung im Briefkasten liegen kann.

Winzer und Bauern, die Erntehelfer benötigen, verweisen auch auf besondere Bedürfnisse …

Wir haben intensive Gespräche mit allen Branchen geführt, die sich bei uns gemeldet haben. Und wir haben ihnen Lösungswege gezeigt, die ihre individuellen Probleme berücksichtigen. Erntehelfer sind in der Regel kurzzeitig Beschäftigte. Auch dafür haben wir Lösungen gefunden, die wir jetzt ausarbeiten und kommende Woche im Detail vorlegen werden.

Lassen Sie beim Thema Praktikanten noch mit sich reden?

Ich bin da nicht dogmatisch. Mir geht es darum, praxistaugliche Regelungen zu finden, und deshalb kann ich mir auch freiwillige Praktika im Rahmen von bis zu drei Monaten vorstellen. Das entspricht in etwa der Länge der Semesterferien an den Universitäten. Für mich ist aber auch klar: Wer eine Ausbildung beendet hat und auf dem Arbeitsmarkt steht, der bekommt auch einen Mindestlohn. Die Generation Praktikum werde ich nicht mehr dulden. Gut qualifizierte Leute monatelang für lau zu beschäftigen, damit wird Schluss sein.

Experten sagen, die Zahl der Aufstocker wird trotz Mindestlohn hoch bleiben. Wem hilft also der Mindestlohn?

Vom Mindestlohn profitieren vor allem Frauen, Arbeitsmarkteinsteiger und Beschäftigte in den ostdeutschen Ländern. Sie haben am Ende des Monats mehr Lohn in der Tasche. Das wird oft auch helfen, aus dem ergänzenden ALG-II-Bezug rauszukommen. Aber ob jemand aufstocken muss oder nicht, hängt von vielen Dingen ab. Ganz besonders von der Frage, ob jemand Teil- oder Vollzeit arbeitet und für wie viele Menschen er damit aufkommen muss. Deshalb wird es auch mit Mindestlohn noch Aufstocker geben. Etwas anderes hat aber auch nie jemand behauptet.

Sie haben das Ministerium unter sich, das das meiste Geld ausgibt, 122 Milliarden Euro in diesem Jahr, Tendenz steigend. Gar kein schlechtes Gewissen?

Nein. Denn was wir hier verwalten, ist die Solidaritätsleistung unseres Landes. Rente, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Arbeitsförderung und Grundsicherung für Arbeitsuchende, Leistungen für die Soziale Entschädigung: Das sind rund 99 Prozent meines Haushalts. Das sind Blöcke, die seit Jahrzehnten fest im Einzelplan meines Hauses stehen. Warum sollte ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn in meinem Etat maßgeblich das „Soziale“ unserer Marktwirtschaft verankert ist?

Nächste Woche tritt das von Ihnen geschnürte Rentenpaket in Kraft. Die Rentenversicherung hat gerade öffentlich vorgerechnet, dass der Beitragssatz wegen des Pakets bis 2030 um 0,4 Prozentpunkte mehr steigt als ohne die Reform, nämlich auf 21,9 Prozent. Schrecken Sie solche Zahlen nicht?

Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ist für die Leistungsverbesserungen, die das Rentenpaket bringt. Den Menschen ist dabei durchaus bewusst, dass es etwas kostet, wenn man 9,5 Millionen Müttern mehr Rente auszahlt. Wie hoch der Beitragssatz 2030 ist, weiß übrigens heute niemand genau. Und die Rentenversicherung hat ja gerade auch mitgeteilt, dass wir den aktuellen Beitragssatz nach neuesten Schätzungen länger niedrig halten können als noch vor Kurzem gedacht.

In Teilen der Union ist man froh, wenn Sie mit Ihrem „Sozialkram“ durch sind. Warum haben Sie sich das Verkünden der für die SPD guten Botschaften nicht für das Ende der Legislaturperiode vorgenommen?

Ich mache meinen Job, und das heißt: Ich halte mich an den Koalitionsvertrag. Da steht drin, dass das Rentenpaket zum 1. Juli kommt, der Mindestlohn zum 1. Januar 2015. Dass wir das schnell und mit aller Energie angegangen sind, sollte niemanden überraschen. Die Menschen erwarten von uns, dass wir Wort halten. Und ich werde selbstverständlich die nächsten Jahre weiterarbeiten. Wir haben noch einiges vor.

Woran liegt es, dass die SPD in Umfragen nicht aufholt?

Bei der Europawahl haben wir doch deutlich zugelegt. Das hat sicher in erster Linie mit Martin Schulz zu tun, aber auch mit der Arbeit der SPD in der Großen Koalition der vergangenen Monate. Vertrauen und Glaubwürdigkeit gewinnt man aber nicht von heute auf morgen zurück. Ich sehe das als einen Prozess.

Das Gespräch führte Rena Lehmann