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Russlands Regionalwahlen sind Stimmungstest in Kriegszeiten

Von dpa
Regionalwahlen in Russland
Eine ältere Frau gibt ihre Stimme während der Moskauer Bürgermeisterwahlen in einem Wahllokal ab. Bei den bis Sonntag angesetzten Regionalwahlen in Russland haben unabhängige Beobachter schon jetzt vielerorts Verstöße und Betrug gemeldet. (zu dpa: «Russlands Regionalwahlen sind Stimmungstest in Kriegszeiten») Foto: Pelagiya Tihonova/DPA

Russland ruft Millionen Menschen zu Regionalwahlen an die Urnen – mitten in Kriegszeiten. Die Opposition und unabhängige Beobachter stellen schon vorab ein vernichtendes Zeugnis aus.

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Moskau (dpa). Unter dem Eindruck des Angriffskrieges gegen die Ukraine werden in Russland von diesem Freitag an Regionalwahlen abgehalten. Eine echte Opposition oder Konkurrenz ist bei den Abstimmungen über neue Gouverneure, Regionalparlamente und Bürgermeister nicht zugelassen. Trotzdem gilt die Abstimmung als wichtiger Stimmungstest für den Kreml, der besonders auch durch die ukrainische Offensive auf russischem Gebiet im Raum Kursk und durch den Beschuss von Grenzgebieten unter Druck steht.

Bis Sonntag sind insgesamt mehr als 57 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, im flächenmäßig größten Land der Erde ihre Stimme abzugeben. Unabhängige Beobachter der in Russland als «ausländischer Agent» geächteten Organisation «Golos» erwarten erneut massive Manipulationsversuche, mit denen die Behörden vor allem den Kandidaten der Kremlpartei Geeintes Russland zum Sieg verhelfen wollen.

Ukraine-Konflikt – Russischer Präsident Putin
Das von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik veröffentlichte und von AP zur Verfügung gestellte Bild zeigt Wladimir Putin (l), Präsident von Russland, der mit dem Gouverneur von St. Petersburg, Alexander Beglow, während ihres Treffens im Kreml an einem Tisch sitzt. Der russische Militärangriff auf die Ukraine dauert nun schon den sechsten Tag an. (zu dpa: «Russlands Regionalwahlen sind Stimmungstest in Kriegszeiten»)
Foto: Alexei Nikolsky/DPA

Kremlchef Wladimir Putin hatte am Donnerstag behauptet, dass die russische Gesellschaft weiter zusammengewachsen sei in ihrem Rückhalt für seinen Krieg. Putin hatte sich selbst erst im März bei einer von beispiellosen Fälschungsvorwürfen überschatteten Präsidentenwahl erneut zum Sieger erklären lassen.

Umstrittene Urnengänge in St. Petersburg und Moskau

Co-Vorsitzender von russischen Wahlbeobachtern festgenommen
Grigori Melkonjanz, Co-Vorsitzender der angesehenen russischen Wahlbeobachtungs-Organisation Golos, steht hinter Glas in einem Gerichtssaal. Melkonjanz ist am 17.08.2023 festgenommen worden. (zu dpa: «Russlands Regionalwahlen sind Stimmungstest in Kriegszeiten»)
Foto: Alexander Zemlianichenko/DPA

In 21 Regionen sind Gouverneurswahlen angesetzt, darunter auch in St. Petersburg, der Heimatstadt Putins. Dort stellt sich der umstrittene und seit 2018 regierende Putin-Vertraute Alexander Beglow zur Wiederwahl.

Der 68-Jährige steht in der Kritik, die bei Touristen beliebte Millionenstadt herunterzuwirtschaften. In der früheren Zarenmetropole verfallen nach Meinung vieler Bewohner Hunderte Kulturdenkmäler, von denen viele zum Welterbe der Unesco gehören. Prominenter Kritiker war der Petersburger Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin, der die Privatarmee Wagner geführt hatte und vor einem Jahr bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Prigoschin nannte Beglow einen «Drecksack», der in der Stadt fehl am Platze sei.

In der russischen Hauptstadt Moskau wiederum wird parallel zu einem großen Fest der Gründung der Metropole ein neues Stadtparlament gewählt. Beobachter der Organisation «Golos» kritisierten es als Wahlrechtsverstoß, dass kaum noch auf Papier abgestimmt werden könne. Die Internet-Abstimmung steht hingegen seit langem in Russland wegen leichter Manipulationsmöglichkeiten der Ergebnisse in der Kritik.

Auch Krieg ein Thema bei den Urnengängen

In einigen Regionen im Grenzgebiet zur Ukraine, allen voran die Gebiete Kursk und Belgorod, konnten Menschen aufgrund von Kriegshandlungen bereits seit Ende August ihre Stimmen abgeben. In einigen Ortschaften wurden Lokalwahlen aber aus Sicherheitsgründen verlegt.

Die liberale Oppositionspartei Jabloko, die anders als andere Kräfte nicht verboten ist, kritisierte im Vorfeld Druck auf Kandidaten. Die Partei beklagte, dass «Hunderte von unseren Kandidaten auf verschiedenen Ebenen mit Hilfe willfähriger Wahlleitungen und Gerichte nicht zugelassen wurden zu den Abstimmungen unter absurden und ausgedachten Vorwänden». Jabloko rief dazu auf, für Frieden und Freiheit stimmen. Die Partei schicke selbst nur Kandidaten ins Rennen oder unterstütze Bewerber, die sich für ein Abkommen zu einer Feuerpause in dem Krieg einsetzten, hieß es.

Jabloko appellierte auch in einer Mitteilung an die Wähler, keine der in der Staatsduma vertretenen Parteien zu unterstützen, weil diese unter anderem für die Repressionen in Russland, für den Ausstieg aus Abrüstungsverträgen und internationalen Vereinbarungen verantwortlich seien.

Beobachter beklagen Apathie und fehlende Konkurrenz

In mehreren Analysen hat «Golos» den Abstimmungen ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt. Die Organisation hat immer wieder erklärt – auch nach der Inhaftierung ihres Co-Vorsitzenden Grigori Melkonjanz -, für die Rechte der Wähler in Russland zu kämpfen. Es herrsche Angst und Apathie in der russischen Gesellschaft, heiß es in einer Analyse. Viele Kandidaten verzichteten auf politisches Engagement, weil sie nicht riskieren wollten, mit einem der repressiven Gesetze des Landes in Konflikt zu geraten. Das politische Feld sei gesäubert, starke Bewerber seien von vornherein nicht zugelassen worden.

«Der Machtapparat fürchtet eine echte Konkurrenz und ist sich einer wirklichen Unterstützung durch die Bevölkerung nicht sicher», teilte «Golos» mit. Es gebe auch keine Debatten. Im Ergebnis gebe es weniger Parteien und Kandidaten als bei früheren Urnengängen in Russland. Insgesamt attestierte «Golos» dem Wahlsystem in Russland einen weiteren Verfall. Chancen hätten am Ende nur die kremlfreundlichen Kandidaten. Wichtigstes Instrument des Kreml bei der Durchsetzung seiner Ziele sei heute das Justizministerium, das nach Gutdünken beliebig Kandidaten oder gewählte Politiker zu ausländischen Agenten oder Extremisten erklären und so mundtot machen könne.

© dpa-infocom, dpa:240906-930-224585/1