Manila

Armut auf den Philippinen

Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila

Von dpa
Manila North Cemetery - Der Friedhof-Slum von Manila
Ein Junge steht auf einem Grab auf dem Manila North Cemetery. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten - Der Friedhof-Slum von Manila») Foto: Carola Frentzen/DPA

In der Mega-Metropole Manila leben Tausende Menschen auf einem Friedhof – sonst wären sie obdachlos. Rund um Halloween hat der North Cemetery Hochkonjunktur. Aber Geister gibt es hier das ganze Jahr.

Lesezeit: 8 Minuten

Manila (dpa). Marilyn Regala steht vor einer alten Waschmaschine und räumt T-Shirts und Handtücher ein. An sich nichts Ungewöhnliches, wären da nicht die vielen pastellfarbenen Gräber. Denn diese «Waschküche» steht auf einem Friedhof. Beim Blick nach oben auf das Wellblechdach fällt ein löchriger schwarzer Plastiksack ins Auge, aus dem Menschenknochen ragen. Der Manila North Cemetery ist kein Ort für schwache Nerven: Hier – auf einem der größten und ältesten Friedhöfe der philippinischen Hauptstadt – leben rund 6.000 Menschen zwischen einer Million Toten.

Zweifellos handelt es sich um einen der befremdlichsten und gruseligsten Slums der Welt. Die Bewohner kümmern sich um die Gräber, halten sie instand, streichen sie gelegentlich – und dürfen im Gegenzug auf ihnen nächtigen und leben. An Allerheiligen am 1. November und Allerseelen am 2. November hat der Friedhof Hochkonjunktur. «Undas» werden die beiden Feiertage genannt, an denen die überwiegend katholischen Filipinos ihrer toten Angehörigen gedenken. Dann strömen Hunderttausende zu den frisch herausgeputzten Gräbern und Mausoleen.

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Bewohner des Manila North Cemetery sind beim Mittagessen zwischen Gräbern zu sehen. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
Foto: Carola Frentzen/DPA

Auch Marilyn (47) und ihre Familie haben tagelang die Grabstätte geputzt und hergerichtet, die sie ihr Zuhause nennen. Es handelt sich um eine Art Hütte, an deren hinterer Seite der himmelblaue Beton-Sarg thront. Darauf und daneben liegen Matratzen und Kissen. Aus einer Ausbuchtung an der Kopfseite ragt ein Kamm. Ventilatoren surren und sorgen für Abkühlung von der Tropenhitze Südostasiens. Ein großer Grabstein liegt quer vor einem Loch und soll Ratten fernhalten. R.I.P. (kurz für «Rest in Peace») steht auf der ausrangierten Marmorplatte. Das Ehepaar, der sie einst gewidmet wurde, ist schon seit Jahrzehnten tot.

«Wir kennen kein anderes Zuhause»

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Das Bild zeigt den Eingang zum Manila North Cemetery. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
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«Für uns ist das alles normal», erzählt Marilyn, die wie viele andere schon seit ihrer Geburt auf dem North Cemetery lebt. «Ich wollte von hier weg, aber ich hatte kein Glück, also habe ich die Situation akzeptiert.» Ihre Freundin Merci Silva stimmt ihr zu: «Wir wissen, dass es ungewöhnlich ist, dass Menschen unter Toten leben», sagt sie. «Die Leute fragen uns oft, warum wir auf einem Friedhof leben. Aber wir wurden hier geboren und kennen kein anderes Zuhause.»

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Zwei Jungen, die auf dem Manila North Cemetery leben, sitzen vor einem Grab. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
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Marilyn ist mittlerweile nicht nur vierfache Mutter, sondern auch vierfache Oma. Alle Kinder und Enkel leben auf dem Friedhof – wie auch ihre Mutter Erlinda Lopez. Die 74-Jährige im gelben Micky-Maus-Shirt wirkt zerbrechlich, sie spricht leise.

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Marilyn Regala (r.), eine Bewohnerin des Manila North Cemetery, kümmert sich auf einem Grab um ihren Enkel. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
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«Wir hatten kein Geld, um uns ein Haus zu leisten, also haben wir Angehörige der Toten gefragt, ob wir hier bleiben dürfen.» Zuerst sei es beängstigend gewesen, aber mittlerweile sei das Leben zwischen Leichen normal.

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Ein Verkaufsstand ist auf dem Manila North Cemetery zu sehen. Die Menschen können sich hier auch Prepaid-Internetzugang kaufen. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
Foto: Carola Frentzen/DPA

Dennoch, die Präsenz der Hingeschiedenen sei vor allem nachts ständig spürbar, erzählen Friedhofsbewohner. Und sie müssen es wissen. Manche sehen angeblich Schatten oder hören seltsame Klagelaute weinender Frauen und Kinder.

«Alle Haare stellen sich auf»

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Merci Silva (l.), Marilyn Regala und ihre Enkel, alle Bewohner des Manila North Cemetery, stehen auf einem Grab. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
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«Manchmal fühlt man sich, als wäre man nicht allein. Man bekommt Gänsehaut. Und dann weiß man einfach, dass Geister um einen herum sind», sagt Marilyn. Im Dunkeln habe sie sogar Angst, auf Toilette zu gehen, weil sie oft das Gefühl habe, von Geistern verfolgt zu werden. «Alle Haare an meinem Körper stellen sich dann auf und ich spüre, dass eine Seele bei mir ist.»

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Menschliche Knochen sind in einer schwarzen Plastiktüte auf einem Wellblechdach des Manila North Cemetery zu sehen. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
Foto: Carola Frentzen/DPA

Nachbarn hätten ihr ebenfalls von unheimlichen Begegnungen mit «weißen oder schwarzen Frauen» erzählt. Andere hätten Erscheinungen von spielenden Kindern gesehen. «Es ist erschreckend. Aber sie tun uns nichts. Sie beschützen uns wahrscheinlich.»

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Erlinda Lopez, eine Bewohnerin des Manila North Cemetery, sitzt auf ihrer Matratze, die auf einem Grab liegt. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
Foto: Carola Frentzen/DPA

In der Metropolregion von Manila leben heute fast 15 Millionen Menschen. Die Megacity gilt als eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft dabei weit auseinander. Schätzungen zufolge sind fast drei Millionen Menschen in der Stadt obdachlos – so viele wie fast nirgendwo sonst.

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Neben Gräbern auf dem Manila North Cemetery sind Küchenutensilien und andere Gebrauchsgegenstände zu sehen. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
Foto: Carola Frentzen/DPA

Der 54 Hektar große Manila North Cemetery wurde 1904 eröffnet. Auf ihm haben unter anderem ehemalige Präsidenten, Künstler und Filmstars ihre letzte Ruhe gefunden, und jede Woche kommen mindestens 100 weitere Leichen hinzu. Die Gräber werden von den Hinterbliebenen für fünf Jahre gemietet. Wenn sie die Miete dann nicht verlängern, werden die Gebeine entfernt, um Platz für neue Bestattungen zu schaffen. So erklären sich auch die Plastiksäcke mit Menschenknochen, die vereinzelt herumliegen.

Läden und WLAN

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Ein Junge spielt zwischen Gräbern auf dem Manila North Cemetery. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
Foto: Carola Frentzen/DPA

Was auffällt, ist die relative Sauberkeit des Geländes. «Wir halten unsere Häuser und die Umgebung in Ordnung. Hier stinkt es nicht, anders als in anderen Slumgebieten der Stadt», sagt Merci Silva, deren Großmutter in den 1950er Jahren eine der ersten Siedlerinnen auf dem North Cemetery war. Der Müll wird viermal pro Woche abgeholt. Vereinzelt wurden einfache Toiletten und Duschen in verlassenen Mausoleen angelegt.

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Ein Mann und sein Sohn, Bewohner des Manila North Cemetery, kümmern sich um ein Grab. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
Foto: Carola Frentzen/DPA

Auch gibt es kleine Läden, Stände mit gekochten Mahlzeiten und sogar münzbetriebene Prepaid-WLAN-Dienste. Zwölf Minuten Netzzugang kosten einen Philippinischen Peso (0,016 Euro).

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Wäscheleinen sind auf dem Manila North Cemetery zwischen Gräbern gespannt. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
Foto: Carola Frentzen/DPA

Strom und Wasser werden den Bewohnern von einem von der Friedhofsverwaltung autorisierten Unternehmen zur Verfügung gestellt – müssen aber bezahlt werden. Manche Menschen besitzen Fernseher, die meisten auch ein Smartphone. «Meine Schwester hat sogar eine Klimaanlage in ihrer Hütte», schmunzelt Merci.

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Eine ehemalige Grabstätte auf dem Manila North Cemetery wurde zu einer Toilette umgebaut. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
Foto: Carola Frentzen/DPA

Wer Glück hat, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs außerhalb des Friedhofs durch, als Straßenkehrer, Tuk-Tuk-Fahrer oder Maurer etwa. Andere werden für die Grabpflege bezahlt. 100 Pesos (1,60 Euro) sind das durchschnittlich im Monat pro Grab. Manche, wie Marilyn, kümmern sich um bis zu 25 Grabstätten – das macht gerade einmal 40 Euro monatlich. Viel zu wenig, um irgendwo eine Miete zu bezahlen.

Manila North Cemetery – Der Friedhof-Slum von Manila
Eine Frau wäscht auf dem Manila North Cemetery in einer Art „Waschküche“ ihre Kleider, davor sind Gräber zu sehen. Auf dem Wellblechdach im Hintergrund liegen menschliche Knochen. Auf dem Friedhof leben seit Jahrzehnten Tausende Menschen zwischen etwa einer Million Toten. Sie gehören zu den Ärmsten des Landes und dürfen auf und zwischen den Gräbern nächtigen, um nicht obdachlos zu sein. Als Gegenleistung kümmern sie sich um die Instandhaltung der Grabstätten. (zu dpa: «Leben mit den Toten – Der Friedhof-Slum von Manila»)
Foto: Carola Frentzen/DPA

Immer wieder gibt es Bestrebungen der Behörden, die Friedhofsbewohner umzusiedeln. Merci und Marilyn wünschen sich nur, dass sie dann an einen Ort gebracht werden, an dem sie auch Arbeit finden und eigenständig ihren Lebensunterhalt bestreiten können. «Natürlich träumen wir davon, außerhalb des Friedhofs zu leben», sagt Merci Silva. «Mein Enkel sagt immer, er werde in der Schule fleißig lernen, damit er einen guten Job findet und wir uns endlich draußen – vor den Friedhofsmauern – ein Haus leisten können.»

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