Stimmung: Die Engländer halten sich noch vornehm zurück

London. Adam Thompson lehnt sich an die Bobby-Moore-Statue vor dem Stadion. Er schließt die Augen und stellt sich vor, wie es wäre, einen Steinwurf entfernt eine Offensive der Bayern-Stars Arjen Robben und Bastian Schweinsteiger auf dem heiligen Wembley-Rasen zu sehen. Er hatte tagelang geflucht und sich die müden Augen vor dem Bildschirm gerieben.

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Bis es keinen Sinn mehr machte, im Internet nach Tickets für das Spiel zu suchen. Tags darauf ist der 14-jährige Schüler mit seinem Vater Greg nach Wembley gefahren, „um wenigstens die Luft der Champions einatmen zu können“, wie der junge Fan sagt. „Nächstes Mal haben wir mehr Glück“, tröstet Thompson senior und steckt seine Fotokamera in eine Stofftasche mit dem aufgedruckten therapeutischen Motto der Briten aus dem Krieg: „Keep calm und carry on“.

Ruhig bleiben und weitermachen, als wäre nichts geschehen. Dieses Motto gilt vor dem großen Finale nicht nur für die Familie Thompson. Die meisten Londoner tun so, als stünde nicht in Kürze eine historische Schlacht der Teutonen an der Themse an. Man sucht vergebens nach Anzeichen für steigendes Champions-League-Fieber. Keine der vielen Sport-Bars und Pubs wirbt hier mit Postern. Niemand verkauft Souvenirs, Programme oder Flaggen.

Gähnende Leere im Stadion-Shop Im nahezu leeren Stadion-Shop herrscht bedächtige Stille. „Vor den Spielen der englischen Teams ist viel mehr los“, sagt eine Verkäuferin. Ein ähnliches Bild auch bei Lillywhites am Piccadilly: Im Sportgeschäft gehen Trikots von Manchester United weg wie warme Semmeln. Dagegen machen die Kunden um die weißen Final- T-Shirts einen weiten Bogen. Es wäre falsch zu glauben, dass die Champions-League-Duelle für die britische Metropole bedeutungslos sind.

Immerhin betrug der wirtschaftliche Effekt des 2011er- Finales (Barcelona gegen ManU) 60 Millionen Euro. Vor allem die Tourismusbranche profitiert von Großereignissen. In den Wochen vor dem deutschen Endspiel hatten die Hotels ihre Zimmerpreise um 63 Prozent erhöht, eine Nacht kostet derzeit im Schnitt 330 Euro.

Auch die Restaurants und Geschäfte freuten sich über die Schlagzeile im „Daily Star“: „The Germans are coming!“ Die Deutschen kommen. Nach einer Schätzung wird sich die deutsche Bevölkerung Londons am Wochenende auf 200 000 verfünffachen. Allein die Fluglinie Ryanair will mit Charterflügen mehr als 6000 deutsche Fans in die Hauptstadt befördern.

Glaubt man dem „Guardian“, haben einige Londoner Shops sogar Vorräte an Lederhosen und Dirndl angelegt für den Fall, dass manche Besucher nur mit leichtem Gepäck anreisen. Der größte Trubel herrscht erwartungsgemäß in der deutschen Gemeinde. Beim kleinen „German Baker“ im Südwesten der Stadt hat sich ein BBC-Radioteam angekündigt, um vor dem Fußballfest eine zweistündige Talkshow „live vom Backofen“ zu senden.

„Der Ansturm ist vergleichbar mit der WM 2006“, erzählt Sabine von Reth, die in ihren „Bavarian Beerhouses“ rund 650 Gäste bewirten will. Beide mit Fähnchen und Schals geschmückten bayerischen Kneipen sind restlos ausgebucht. Am Samstag werden hier vor Großleinwänden etwa 2000 Liter deutsches Bier fließen. Dazu werden „Brez’n“ und „London’s finest Schweinehaxen“ serviert.

„Für uns ist dies das wichtigste Ereignis des Jahres“, sagt von Reth. Ähnlich sieht das der Wirt des „Octoberfest Pubs“ in Fulham. Nathan Gee erwartet 250 Besucher. „Es wird eine unvergessliche Nacht“, freut sich der britische Vorsitzende des „Bayern Munich Fanclub UK“. Nur milde Spitzen in der Presse Die deutsche Vorherrschaft hat sich im Mutterland des Fußballs längst herumgesprochen.

Die Demütigung der spanischen Favoriten schockiert die Briten und öffnete ihnen die Augen. Die deutschen Mannschaften, bislang für Siegeswillen und robuste Spielweise bekannt, gelten auf der Insel auf einmal als technisch brillant, sympathisch und cool. Natürlich dürfen vor dem Finale die üblichen Spitzen der Presse nicht fehlen. Doch sie sind milder als sonst. Fast schon respektvoll warnt die „Sun“ ihre Leser vor der „großen Invasion unserer angelsächsischen Cousins“.

Die BBC schlägt augenzwinkernd eine Überschrift für den Tag nach dem Finale vor, vorausgesetzt es wird ein eher langweiliges Spiel: „Wurst Final Ever“. Das schlimmste Finale aller Zeiten – garniert mit dem obligatorischen Seitenhieb auf deutsche Essgewohnheiten.

Von unserem Londoner Korrespondenten Alexei Makartsev