Bad Neuenahr/Ahrweiler – Konzentriert dribbelt Ines über den Rasen. Den Blick fest auf den Fußball gerichtet, schlägt sie Haken und wechselt blitzschnell die Richtung, um eine unsichtbare Gegenspielerin auszutricksen. Nur wenige Hundert Meter Luftlinie von ihr entfernt durchschneidet eine Autobahnbrücke die sanften Hügel des Ahrtals. Das kilometerlange Band aus grauem Stahlbeton führt in schwindelerregender Höhe über Fluss und Felder, ein ständiges Rauschen kündet von den Schwertransportern, die im Sekundentakt über den Asphalt rollen. Doch Ines bemerkt davon nichts. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt dem runden Leder vor ihren Füßen, das sie jetzt gekonnt durch einen Parcours aus gelben Slalomstangen bugsiert. Lediglich die sonore Stimme des Trainers dringt noch zu ihr durch: „Nicht schlimm, wenn du mit dem Oberkörper an die Stangen kommst. Das könnte schließlich der Gegner sein!“
Auf dem Weg zum Profi
Was zunächst als normales Aufwärmtraining im Kreisligaverein durchgehen könnte, ist auf den zweiten Blick gar nicht so gewöhnlich: Der Trainer, der jede Bewegung der jugendlichen Spielerin verfolgt, ist schließlich Colin Bell, der nach dem Ende seiner Karriere als Fußballprofi bei Vereinen wie Mainz 05 oder der TuS Koblenz trainierte. Kürzlich heuerte er als Trainer beim Frauenbundesligisten SC 07 Bad Neuenahr an. Und auch Ines Günther darf sich mit ihren 14 Jahren bereits zur Fußball-Elite zählen: Sie besucht seit einem halben Jahr das DFB-Internat für Mädchenfußball im Kloster Calvarienberg in Ahrweiler. Wer es wie Ines in die Talentschmiede des Verbands geschafft hat, dem sollte die Fußballwelt in wenigen Jahren zu Füßen liegen: Der Vertrag beim Bundesligisten, bei einer WM für die deutsche Nationalmannschaft auf dem Platz stehen – alles ist in greifbarer Nähe.
Bis es so weit ist, wartet allerdings ein gewaltiges Pensum auf die jungen Spielerinnen: Während ihre Mitschülerinnen im Internat die freie Zeit zwischen Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung vertrödeln, streift sich Ines ihr Trikot über und verstaut Jeans und Pulli in der schwarzen Sporttasche. Im Innenhof der imposanten Klosteranlage, die mit ihren spitzen Türmen und den grob gemauerten Wänden entfernt an die Zauberschule Hogwarts aus den Harry-Potter-Romanen erinnert, wartet Ines auf ihren Fahrer. Als ein schwarzer Ford Transit vor ihr stoppt, wirft sie ihre Tasche in den Kofferraum und lässt sich in den Rücksitz sinken. „Wir können“, weist sie den Mann am Steuer an. Die beiden sehen sich öfter: Ines trainiert täglich nach der Schule im mehrere Kilometer entfernten Apollinarisstadion – mal mit der U15-Mannschaft des SC 07, mal mit ihren Mitschülerinnen aus dem Internat. Der DFB organisiert die Fahrten zum Training und wieder zurück.
Talente unter wolkigem Himmel
Im Stadion warten schon die Mitschülerinnen Elena Bläser und Celine Rumpf, die die ein Jahr jüngere Ines fast um einen Kopf überragen. Auf dem riesigen Rasen scheinen sich die drei Mädchen zu verlieren: unter ihnen die saftig-grünen Weiten, über ihnen ein gleichmäßiges Wolkenmeer, das nur vereinzelt ein Fitzelchen blauen Himmels erahnen lässt. Wie um seine Fußball-Schäfchen beieinander zu halten, hat Colin Bell mit vier Hütchen ein Spielfeld abgesteckt. Die jungen Fußballerinnen schnappen sich jeweils einen Ball und laufen sich dribbelnd warm. Wie auf Knopfdruck richten sich ihre Blicke synchron nach unten, so als wollten sie mit ihren Augen ein Magnetfeld erzeugen, das den Ball am Fuß hält. Ines, die mit ihrer Stupsnase und dem schüchternen Lächeln eben fast noch kindlich wirkte, gelingt diese Übung nun mit einer schlafwandlerischen Sicherheit. Sie führt den Ball, täuscht an, rennt weiter, wechselt im Lauf die Richtung – als hätte sie sich nie anders als dribbelnd durch den Alltag bewegt.
Dass ihr Talent im Umgang mit dem Ball keineswegs selbstverständlich ist, merkt Ines bereits in jungen Jahren, als sie im hessischen Hirzenhain mit dem Kicken beginnt. Ihr Vater ist im Vorstand des örtlichen Fußballvereins und nimmt die Siebenjährige mit zum Training der Jungenmannschaft. Später steht sie für verschiedene Mädchenmannschaften der Region auf dem Rasen: „Da war ich die Einzige, die Fußball spielen konnte.“ Da es im nördlichen Hessen keinen Verein gibt, der junge Spielerinnen professionell fördern kann, melden ihre Eltern Ines schließlich in dem 200 Kilometer entfernten Eliteinternat an. „Von zu Hause wegzugehen, hat mir nicht viel ausgemacht“, erzählt Ines, auch wenn sie ihre Familie jetzt nur noch am Wochenende und in den Ferien sieht. Da stört es sie schon wesentlich mehr, wenn es auf dem Platz mal nicht rundläuft.
Nachdem sich Ines und ihre Mitschülerinnen warm gelaufen haben, will Colin Bell ein kleines Kunststück einstudieren: Die Mädchen balancieren den Ball auf dem Spann, kicken ihn hoch, führen das Bein blitzschnell über den Ball hinweg und fangen ihn anschließend sicher mit dem Fuß wieder auf. So weit die Theorie. In der Praxis macht sich Ines’ Ball ein ums andere Mal selbstständig, prallt von ihrem Fuß ab und kullert über die Wiese. Das ihr sonst so eigene Ballgefühl sitzt am Spielfeldrand und weint, während Ines mit vor Anstrengung geröteten Wangen zum fünften Mal den Ball aufnimmt. „Wie lange haben sie eigentlich gebraucht, bis sie das konnten?“, fragt sie Colin Bell genervt. Statt zu antworten, wechselt er schmunzelnd zur nächsten Übung: mit dem Ball durch den Hindernisparcours hindurch.
Freiraum für Fehler schaffen
Denn auch wenn Colin Bell noch ein Neuling im Frauenfußball ist, weiß er, wie seine Schützlinge ticken: „Die Mädchen haben unglaublich hohe Erwartungen an sich selbst, und wenn sie daran scheitern, lassen sie den Kopf hängen. Das ist bei den Großen aber genauso.“ Der gebürtige Brite versucht daher, im Training eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Spielerinnen trauen, Fehler zu machen: „Es ist in Ordnung, fünf Mal über den Ball zu stolpern. Dann klappt’s vielleicht beim sechsten Mal.“ Der ungewohnte Druck gepaart mit der Erfahrung, plötzlich nicht mehr die beste Spielerin auf dem Platz zu sein, machten Ines zu Beginn ihrer Zeit im Internat dennoch am meisten zu schaffen. „Das war hart, denn hier können alle Fußball spielen. Im Verein herrscht ein richtiger Konkurrenzkampf um die Positionen.“ Dass sich das harte Training einmal auszahlt, davon ist Ines überzeugt: Ihre beiden Internats-Mitschülerinnen Marie Pyko und Ramona Petzelberger haben sich mit der U19-Mannschaft schließlich erst kürzlich den EM-Titel gesichert. Der Erfolg der beiden Lokalheldinnen ist Ines fast wichtiger, als es ein WM-Sieg der deutschen Frauen-Nationalmannschaft im eigenen Land sein könnte.
Um ihren Idolen nachzueifern, gibt Ines in der Schlussphase des Trainings noch mal alles: Mitschülerin Elena steht im Tor, während Ines versucht, Colin Bell als gegnerischen Abwehrspieler auszuspielen. Es hat inzwischen aufgefrischt, die ersten dunklen Wolken ziehen heran, doch noch ist es nur der Schweiß, der über ihre Stirn läuft. Sie rennt über die Wiese, umgeht die Abwehr mit einem schnellen Haken und ballert aufs Tor. Latte. Ines setzt zum Nachschuss an und haut den Ball an Elena vorbei in den Kasten. „Ja!“ Ein kurzer Triumphschrei, dann taumeln die Spielerinnen in Richtung Umkleidekabine.
Schule, Fußball, Hausaufgaben
Schnell geduscht, dann geht es raus aus dem Stadion, wo nur noch ein einsamer Jogger im Nieselregen seine Runden dreht. Der Fahrer des DFB bringt die Schülerinnen zurück ins Internat. Im Ruheraum des Klosters warten zunächst die Hausaufgaben, denn auf der Realschule beziehungsweise dem Gymnasium lernen die Nachwuchsfußballerinnen den gleichen Stoff wie die „normalen Schüler“ auch. Sobald sie fertig sind, genießen die Schülerinnen bis zum Abendessen noch eine Stunde knapp bemessener Freizeit: „Dann gehen wir runter ins ‚kleine Städtchen’ oder kicken noch ein bisschen für uns.“ Fußball spielen? In der Freizeit? „Ja“, antwortet Ines. „Fußball ist und bleibt mein Hobby, auch wenn ich inzwischen nicht mehr nur zum Spaß spiele.“
Von unserer Reporterin Martina Koch