Wenn Nicole Schober an der Tür klingelt, schlägt ihr eher selten Begeisterung entgegen. Wenn denn überhaupt jemand aufmacht. „Und es gibt auch Leute, die sagen einfach: Nee!“, berichtet die Flutberaterin, die überall unter dem Namen Missy Motown bekannt ist. Vergnügungssteuerpflichtig ist ihr Job jedenfalls nicht.
Denn Missy Motown ist eine von 20 Mitarbeitern des Projekts „Aufsuchende Hilfe“, die derzeit in Zweierteams mit den Maltesern im Ahrtal unterwegs sind, um Flutopfer zu unterstützen, die irgendwie durchs Netz gefallen sind. Fast 800 Haushalte haben sie schon abgeklappert. Oft geht es dabei um Fördermittel aus dem Wiederaufbaufonds, die nicht abgerufen worden sind, obwohl sie den Betroffenen eigentlich zustehen würden. Nicht selten geht es um mehrere Zehntausend Euro. Eigentlich eine gute Sache. Doch bei vielen Flutopfern im Ahrtal genießt der Staat nicht eben den besten Ruf. Insbesondere bei den Härtefällen, die Missy Motown und ihren Kollegen oft von Ortsbürgermeistern gemeldet werden.
Auf die ISB Rheinland-Pfalz sind viele Betroffene gar nicht gut zu sprechen
Vor allem das Kürzel ISB ist für viele Menschen zum Reizwort geworden. Steht die Invesitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz doch nicht gerade im Ruf eines unbürokratischen Aktivismus. Langsam, träge, kompliziert. Diese Vorwürfe hören sie bei der „Aufsuchenden Hilfe“ immer wieder. Aber Missy Motown hat ein dickes Fell. „Wir müssen nicht nur empathisch sein“, sagt sie. „Bei uns ist auch Resilienz gefragt.“ Alle Mitarbeiter sind entsprechend geschult worden.
Und so gilt es erst mal, das Eis zu brechen, wenn sich der aufgestaute Frust der Kunden entlädt. Und das tut er oft, auch wenn Missy Motown noch nie persönlich beschimpft worden ist. „Zunächst fragen wir nach, wie es den Menschen geht“, sagt sie. Denn sie weiß, dass auch ein Jahr nach der Katastrophe immer noch viele Bewohner des Ahrtals traumatisiert sind. Viele stehen vor den Trümmern ihrer Existenz, haben geliebte Menschen verloren. Die Beraterin nimmt sich deshalb viel Zeit. Es gibt keine festen Termine. Keine Vorgaben. Missy Motown und ihre Kollegen kommen einfach vorbei. Unangemeldet.
Wohnhäuser, die auch nach einem Jahr noch wie Ruinen wirken
Dieter Wirges kennt sie schon. Missy Motown schaut mittlerweile schon zum dritten Mal in seinem Haus in Rech vorbei, das immer noch einer Ruine gleicht. Im Erdgeschoss liegt der Estrich frei, an den Wänden ist der Putz bis auf 60, 70 Zentimeter Höhe abgeschlagen. So hoch stand das Wasser am 14. Juli. „Alles kaputt“, sagt Wirges frustriert. „Wenn man mich anschaut, dann sieht man nur den Kampfpanzer“, sagt der Minijobber.
Aber der Frust sitzt tief. Sehr tief. Und die Resignation. Sein Wohnzimmer ist unbewohnbar. Eine Staubschicht bedeckt die schwarzen Sofas und die abgeschraubten Lampen. Der Kachelofen ist komplett hinüber. Auch die Fenster müssten dringend raus, wenn sich denn Handwerker auftreiben ließen. Seit fast einem Jahr lebt er im ersten Stock, in den er sich in der Flutnacht geflüchtet hat. Eine trostlose Situation.
Wenn man mich anschaut, dann sieht man nur den Kampfpanzer.
Der Ahrtaler Dieter Wirges, extrem gebeutelt von der Flut und den Folgen
Wirges führt uns in seinen Keller. Immerhin die Treppe hat die dramatische Nacht halbwegs überstanden. Unten baumelt ein dickes Stromkabel von der Decke, das irgendjemand notdürftig mit einem Besen abgestützt hat. Nicht eben TÜV-konform. Missy Motown schlägt die Hände vors Gesicht. „Sollen wir jemanden schicken, der das richtig sichert?“ fragt sie. Auch das gehört zu ihrem Job. Wirges winkt ab. „Hält schon“, sagt er. „Ich war selbst mal Elektrotechniker.“ Mehr Sorgen macht er sich um ein Loch, das in der Wand klafft.
Vom Staat fühlt man sich im Stich gelassen, von Malu Dreyer frustriert
Und dann bricht es aus ihm heraus. Der ganze Frust, dass seit Monaten fast nichts vorangeht. Die Wut darüber, dass der Gutachter einfach nicht beikommt. Einer soll dafür mal 19.000 Euro verlangt haben. Statt der üblichen 2000 bis 3000 Euro. Vor allem aber fühlt er sich vom Staat im Stich gelassen. Was er von der Landesregierung hält? „Gar nichts“, sagt er. „Mich regt es total auf, wenn Malu Dreyer sagt, dass die Ahrtalbahn wieder fährt“, sprudelt es aus ihm heraus. „Schauen Sie sich doch mal um: Hier fährt nichts.“ Immerhin die Hausratsversicherung hat gezahlt. Ansonsten: Fördermittel Fehlanzeige.
Ein Jahr liegt das wohl schlimmste Ereignis zurück, das je im Kreis Ahrweiler stattgefunden hat. Der Wiederaufbau nach der Jahrhundertflut wird viel Zeit in Anspruch nehmen. Doch was ist in zwölf Monaten passiert?Der Foto-Vergleich ein Jahr nach der Flut: An vielen Orten im Ahrtal ist bis heute fast nichts passiert
An dem Punkt konnten sie schon mal helfen. Bisher war die ISB für Dieter Wirges ein rotes Tuch. An den Antrag auf Fördermittel bei der Investitions- und Strukturbank des Landes, der übers Internet ausgefüllt werden muss, hat er sich lange nicht so recht herangetraut. „Ich dachte, dass ist zu kompliziert“, sagt er. Und was der Recher auch nicht wusste: „Der erste Abschlag über 20 Prozent der Schadenskosten kann auch ohne Gutachter beantragt werden“, hat ihn Missy Motown aufgeklärt. Dafür reiche schon eine eigene Einschätzung. Noch besser sei es, einen erfahrenen Handwerker zu konsultieren. Bei Dieter Wirges dürften das bei einem vermuteten Gesamtschaden von rund 220.000 Euro immerhin schon mal 44.000 Euro als Abschlag sein.
Gesagt, getan: Mithilfe der „Aufsuchenden Hilfe“ hat sich Wirges an die Operation ISB-Fördermittel gemacht. Und siehe da, es ging eigentlich ganz schnell. „Nach rund 30 Minuten waren sie fertig“, betont Missy Motown. Dafür sei es aber vor allem wichtig, dass alles gut vorbereitet ist: Bankverbindung, Personalausweis, Steuer-ID, Versicherungsschreiben und E-Mail-Adresse. Jetzt muss Dieter Wirges eigentlich nur noch warten. Aber das kann erfahrungsgemäß dauern. Manchmal monatelang.
Anfangs habe es bei der Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz technische Probleme gegeben, räumt Missy Motown ein. „Da sind die Anträge im System hängen geblieben.“ Mittlerweile sei es aber deutlich besser geworden. Zuletzt habe sie einen neuen Rekord verbuchen können. „Nach nur neun Tagen wurde ein Antrag bewilligt.“ Auch bei Dieter Wirges? Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Begona Hermann hat mit der Landesbank zwar nichts zu tun, aber sie kennt die Vorurteile nur zu gut. Oft begleitet sie Missy Motown oder ihre Kollegen auf ihrer Runde von Haus zu Haus. Auch bei Dieter Wirges ist sie dabei. „Ich bin von der bösen ADD“, stellt sich die Vizepräsidentin der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion Trier vor. Die Reaktion ist fast immer die gleiche. Auch bei Wirges. „ADD?“ Da muss auch die Vizechefin schmunzeln. Die Behörde kennt bei ihren Besuchen eigentlich fast niemand. Aber immerhin besser als ISB. Kritik gibt es manchmal trotzdem. „Aber dafür ist mein Rücken breit genug“, sagt sie. Da kann es nicht schaden, dass sie studierte Psychologin ist.
Ein Härtefall in Rech: Wie bei 50 Prozent der Besuche macht niemand die Tür auf
Danach geht's weiter durch das kleine Dorf Rech. Zu einem Härtefall, wie Missy Motown betont. Das Haus wirkt etwas verwahrlost, ist aber bewohnt. Die Beraterin klopft vorsichtig an. Diesmal macht niemand auf. So wie in rund der Hälfte aller Besuche. Aber Missy Motown und ihre Kollegen drängen sich nicht auf. Für diese Fälle hat sie Informationsmaterial der ISB und der Malteser Fluthilfe dabei, das sie an die Haustür klemmt. Vielleicht kommt sie später noch mal wieder.
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Bei der ISB will man das ramponierte Image so nicht auf sich sitzen lassen. Mittlerweile sind auf Anfrage unserer Zeitung 120 Mitarbeiter mit der Aufbauhilfe beschäftigt – darunter 60 in der Bearbeitung. „Durch Neueinstellungen von qualifiziertem Personal haben wir zwischenzeitlich die Bearbeitungskapazität erhöhen können“, betont ISB-Pressesprecherin Claudia Wichmann. Darüber hinaus werde die Behörde von Mitarbeitern der Landesverwaltung unterstützt. Beim Hausrat würden Anträge mittlerweile innerhalb weniger Werktage bewilligt, wenn sie vollständig ausgefüllt sind. Bei Gebäuden und Unternehmen, wo der Prüfaufwand wesentlich höher ist, dauere es durchschnittlich rund sechs Wochen. Und warum müssen viele Antragsteller trotzdem weitaus länger warten?
In vielen Fällen sind die Anträge unvollständig, Unterlagen müssen nachgefordert werden.
Claudia Wichmann, Pressesprecherin der ISB.
Ende Juni habe es 640 solcher Nachforderungen gegeben. „Werden nicht die korrekten Dokumente zur Verfügung gestellt oder Antragsteller reagieren nicht auf Nachforderungen, kann die Bearbeitung nicht fortgesetzt werden.“ Die ISB habe die Formulare deshalb vereinfacht.
Schon mehr als 500 Millionen Euro wurden bewilligt, doch bei Firmen hapert es
Und so kann sich die Bilanz durchaus sehen lassen. Von 11.828 Förderanträgen sind laut ISB bereits 10.791 mit einem Gesamtvolumen von 523,1 Millionen Euro bewilligt worden (Stand: 28. Juni). Demnach läuft es vor allem beim Hausrat mit 9122 (von 9714) und bei Gebäuden mit 1500 (von 1858) bewilligten Anträgen relativ rund.
Ohne das Internet und soziale Netzwerke wie Facebook wären die Flutkatastrophe, die unmittelbare Hilfe beim Aufräumen und die Hilfe bis heute anders verlaufen.Das Netz der Hilfe aus dem Netz: Internet und soziale Netzwerke spielen im Ahrtal eine große Rolle
Nur bei Unternehmen hinken die Bearbeiter demnach mit 169 (von 256) bewilligten Anträgen noch etwas hinterher, weil das Prüfverfahren deutlich komplizierter ist.