Vor zehn Jahren fiel Benjamin Tax das erste Mal in die Kloake. Er wurde getauft. Nicht in der Kirche. Benjamin Tax fiel in einen Kanal unterhalb der Ungererstraße im Münchener Stadtteil Schwabing. Seine Kollegen haben kräftig mitgeholfen. So machen sie das in der Familie. Eigentlich taufen die Münchener Kanalarbeiter die Neuen. Doch als die Kollegen Benjamin Tax vor 33 Jahren das erste Mal aufs Glatteis führen wollten, da rutschte er einfach nicht aus. Erst später erfuhr er, dass es nicht geklappt hatte mit der Taufe. In der Ungererstraße holten sie es nach. Deshalb ist das jetzt sein Kanal.
„23 Jahre bin ich trocken geblieben“, sagt Tax, als er die Stufen zur Ungererstraße hochstapft. 15 Besucher des Kanalmuseums München folgen dem Mann mit der Halbglatze. Zweimal pro Woche führt er Besuchergruppen durch das weitverzweigte Kanalsystem. Es kostet die Gäste nichts – nur Überwindung.
Wie nahe der Universität, wo die außergewöhnliche Führung beginnt. Als Benjamin Tax die schwere Falltür aus Stein am Rande der Akademiestraße mit einer Kette hochzieht, dringt ein modrig-warmer Geruch nach oben. Aber es stinkt nicht nach Scheiße. Der Mann mit der randlosen Nickelbrille stapft die 19 glitschigen Stufen mit festen Schritten hinunter. Die Besucher gehen entlang von Backsteinwänden, an denen das Wasser wie Tau an Blättern klebt. „Rotzglocken“ nennen es die Kanalarbeiter. Hinter einem engen Gewölbegang erreichen die Museumsgäste ihr erstes Ziel: einen Abwasserkanal aus dem Jahr 1884. Staunend blicken die einen auf die braune Masse, die sich unter ihnen durch den Kanal schlängelt. „Ist da auch Kacke drin?“, fragt ein kleiner Junge, der in einen Apfel beißt. „Ja“, antwortet Benjamin Tax, „aber hier kannst du ruhig Scheiße sagen.“
Ab und zu tänzelt ein Wattestäbchen auf dem Wasserstrom. In der Brühe wabern Klopapierfahnen. Da schwimmt ein Pilz aus Waschschaum. Einige Museumsgäste halten sich die Nase zu. Dabei ist heute ein guter Tag für einen Besuch in der Unterwelt: Die großen Brauereien „Spaten“ und „Löwenbräu“ am Stiegelmairplatz leiten massenhaft 36 Grad warmes Brauwasser mit einem Schuss Hefe in die Kanäle. „Wenn die brauen, ist es hier extrem warm und schwül. Und das Brauwasser übertüncht den Gestank. Da ist ein Besuch hier unten ein Vergnügen“, sagt Tax.
Liebevolles Verhältnis
Benjamin Tax, 58 Jahre alt, hat ein fast liebevolles Verhältnis zu den 1200 Kilometer langen Kanälen in der Münchener Unterwelt. Er spricht gern von „unseren Kanälen“. Uns – damit meint er die 120 Mitarbeiter des Amtes für Stadtentwässerung, die sich um die Kanäle und das fast 1200 Kilometer lange Rohrsystem im Münchener Untergrund kümmern. „Wir waren mal wie eine Familie“, sagt Tax wehmütig. Früher, erinnert er sich, hat sich der Beruf in München quasi vererbt. Kanalarbeiter waren meist die Kinder, die Verwandten. Die Erfahrungen wanderten von Generation zu Generation. Jeder hatte sein Revier. Vor einigen Jahren löste die Stadt die alten Reviere auf, sagt Tax. Die Familie verlor ihre Heimat. Jetzt will die Stadt „zurück zum Alten“, sagt der 58-Jährige und schüttelt den Kopf. Die Kanalarbeiter seien ihrer Zeit eben immer schon voraus gewesen, ist er überzeugt.
So wie Max von Pettenkofer, im 19. Jahrhundert Arzt und Apotheker in München. Wenn Tax seine Gäste durch die Unterwelt führt, vergehen keine fünf Minuten, ohne dass der Name Pettenkofer fällt. Er trägt ihn vor sich her wie eine Monstranz. Im 19. Jahrhundert schuf er das Münchener Kanalsystem – trotz großer Widerstände.
Was für ein Visionär Pettenkofer war, zeigt sein Verehrer den Museumsgästen unterhalb der Ungererstraße, einige U-Bahn-Stationen weiter nördlich. Hier, wo es fern der Brauereien kalt und trocken ist, hat der schmale Abwasserkanal in dem riesigen Kellergewölbe einen großen Bruder zur Seite. „Pettenkofer hat sich gedacht: Wenn es stark regnet, könnte es sein, dass der Kanal überläuft“, sagt Tax. Damals rechnete niemand damit, dass München einmal die deutsche Großstadt mit den stärksten Niederschlägen sein würde. Heute fließt das Regenwasser nach starken Gewittern über den breiten Seitenkanal direkt in die Isar. Selbst an den Anschluss an eine damals noch nahezu unbekannte Kläranlage hat der Visionär gedacht.
Besucher haben Glück
Von der Ungererstraße geht es zu Fuß weiter zu den Säulen der Unterwelt. 42 Stufen sind es bis zu dem fußballfeldgroßen Raum unter dem Bezirkssportplatz Schwabing. Fünf Meter hohe Säulen zeigen, wie hoch das Wasser steigen kann. 20 000 Kubikmeter finden hier Platz. Die Besucher haben Glück: Vergangenes Jahr haben Tax und seine Kollegen das Becken gesäubert. Jetzt lassen nur noch das gluckernde Abwasser in weiter Ferne und Klopapierreste in den kleinen Kanälen, die den Raum durchziehen, die Kloake erahnen, die durch dicke Rohre in die beiden nahe gelegenen Kläranlagen fließt.
Vor zwei Jahren mischte sich ein Mitarbeiter des Musiksenders MTV unter die Gäste. Er suchte nach einem geeigneten Platz für eine Party nach der Verleihung der MTV Music Awards. Tax zeigte ihm das 90 000 Quadratmeter große Regenüberlaufbecken unter dem Hirschgarten im Münchener Westen. Dort, wo die Säulen wie Pilze aussehen, wollte MTV die Fans mit Madonna und Lady Gaga feiern lassen. Doch die entsetzten Chefs von Benjamin Tax stoppten die Pläne des Senders.
Als Benjamin Tax noch nicht Besucher durch seine Kanäle führte, schaute er zusammen mit seinem Chef Alfred Jäger oft durch eine kleine Öffnung am Fuß der Treppe runter zum Ungererkanal, um den Wasserstand zu kontrollieren. Vor einigen Jahren wurde er als erster Kanal in München getauft. Jetzt heißt er Jägerkanal – der Ort, wo Benjamin Tax vor zehn Jahren in die Kloake fiel.