Oh, das ist ein sehr interessanter Punkt. Wir machen die Patienten nämlich gar nicht allein gesund. Wir helfen ihnen, damit sie nach und nach lernen, es selbst zu tun. Das ist ein himmelweiter Unterschied.
Also eher Hilfe zur Selbsthilfe?
Ja. Ein guter Helfer macht sich mit der Zeit selbst überflüssig – und nicht den anderen von sich abhängig. Wer sich nur aufs Löcherstopfen spezialisiert, muss mit der Zeit immer mehr Löcher stopfen. Das kann auf Dauer nicht funktionieren.
Wenn Sie das nicht machen – was machen Sie dann?
Zunächst holen wir die Patienten morgens zu Hause ab und bringen sie abends nach Hause. Sie müssen sich tagsüber keine Sorgen machen, dass sie ihre Familie nicht sehen, die Pflanzen nicht gegossen werden oder das Haustier zu jemand anderem muss. Wer den Kopf frei hat, kann sich besser aufs Gesundwerden konzentrieren.
Und dann?
Dann arbeiten wir daran, mit den Patienten Gewohnheiten zu entwickeln, die ihre Gesundheit schützen. Die Gewohnheit kann der größte Freund des Menschen sein – oder sein größter Feind. Kommt drauf an, welche Dinge man zur Gewohnheit werden lässt.
Und das ist schon das ganze Geheimnis von Rehabilitation?
Es gibt noch ein paar andere Zutaten, die mir speziell wichtig sind. Eine davon ist das Betriebsklima. Wenn unsere Mitarbeiter schlechte Laune hätten, würden das auch die Klienten sehr schnell merken. Unser Team ist über die Jahre immer weiter gewachsen, und ich möchte mich einfach auch mal bei den Einzelnen bedanken, denn es ist nicht selbstverständlich, so ein Team zu haben. Es ist und bleibt nun mal ein Unterschied, ob man mit Patienten arbeitet oder Maschinen repariert. Und wenn ein Patient an einem Ort willkommen ist, wird er dort auch schneller gesund. Davon bin ich überzeugt.
Was hat sich im Laufe der Jahre verändert?
Wir lernen selbst durch die Erfahrungen mit den Patienten, was wir anders, was wir besser machen müssen. Nach und nach haben wir uns vom Rehazentrum immer mehr zum Gesundheitszentrum entwickelt.
Wo ist da der Unterschied?
Lassen Sie mich das Leben mal mit einem langen Fluss vergleichen: Manche verausgaben ihre Gesundheit schon lange, bevor der Fluss zu Ende ist. Sie schwimmen auf eine Art, die an die Substanz geht.
Und dann gehen sie zum Arzt …
Richtig, und der verschreibt ihnen Schwimmhilfen. Die benutzen sie dann. Eine solche Schwimmhilfe sind zum Beispiel Schmerztabletten. Die können manchmal sehr nützlich sein. Nicht nützlich sind sie, wenn man an seinem Alltag gar nichts ändert, zum Beispiel falsch hebt, den Rücken nicht trainiert und seinen Körper mit Schmerztabletten betäubt, bis die Bandscheiben noch mehr abbauen. Dann wird der Fluss nämlich irgendwann zum Wildwasser, und auch die Schwimmhilfen bringen nichts mehr.
Das heißt: Sie wollen lieber vorher etwas tun, als es anschließend zu reparieren?
Richtig. Es ist beachtlich, was der menschliche Körper kann, wenn man ihn fördert und auf die richtige Weise fordert. Wir hatten mal einen Patienten, der nach Aussage seines Arztes eigentlich schon seit 40 Jahren im Rollstuhl hätte sitzen sollen. Er hat in den 1970er-Jahren konsequent mit Training begonnen, kam dann mit Mitte 80 zu uns und sagte, wir sollen ihn noch mal richtig fit machen.
Aber das wird ja wohl nicht die Regel werden …
Ich wäre da vorsichtig. Vor einem Jahrhundert hatten Jungen eine Lebenserwartung von 55 Jahren, Mädchen von 62. Vor 150 Jahren waren es 39 Jahre für Jungen, 42 für Mädchen.
Wie ist es aktuell?
Von zehn im Jahr 2017 geborenen Jungen werden voraussichtlich sechs das Alter von 90 Jahren erreichen. Bei den Mädchen sind es sogar sieben von zehn. Ich glaube, dass wir noch gar nicht richtig verstanden haben, wozu der menschliche Körper fähig ist. Unser Wunsch ist es, dass unsere Kunden nicht einfach nur alt werden und Tabletten nehmen. Wir möchten, dass sie sich dabei guter Gesundheit erfreuen. Dazu können unsere Klienten auch jetzt schon etwas tun. Dafür arbeiten wir jeden Tag.
Die Fragen stellte Vera Müller