Ahrtal

Wer für Windräder kämpft, kämpft gegen Windmühlen: Engagierte schildern ihre Utopien für's Ahrtal

Von Finn Holitzka
Foto: dpa/Boris Roessler

Wenn der Schlamm weg ist, könnte es im Ahrtal schöner werden als je zuvor, hofften viele – Stattdessen zermürbt man sich zwischen Visionen und Wirklichkeit. Warum trotzdem gerade jetzt Utopien gefragt sind – und wie die aussehen könnten

Lesezeit: 7 Minuten
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Nach dem Desaster kommt das große Aufräumen. Und dann? In der Katastrophenhilfe gilt der Leitsatz „Building Back Better“. Doch im Ahrtal sind viele skeptisch, ob das gelingen kann.
Nach dem Desaster kommt das große Aufräumen. Und dann? In der Katastrophenhilfe gilt der Leitsatz „Building Back Better“. Doch im Ahrtal sind viele skeptisch, ob das gelingen kann.
Foto: dpa/Christof Stache

Die Ärzte haben mal in einem Punksong gesungen: „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wär nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.“ Das Lied knattert häufig aus den Lautsprecherboxen bei Klimademos. Wenn junge Leute, die sich „Aktivisti“ nennen, weil das weder männlich noch weiblich klingt, freitags nach einer lebenswerten Zukunft verlangen, steht „Deine Schuld“ auf den Playlists. Weil der Text dazu auffordert, eine eingeübte kleinkarierte Schlonzigkeit zu überwinden: Nicht mehr (nur) zu fragen, wer Probleme gemacht hat, sondern Lösungen zu finden.

Als Parole ist das griffig. Aber im Ahrtal zeigt sich: Träumen ist schwer, wenn man in Trümmern steht. Wer für Windräder kämpft, kämpft oft gegen Windmühlen. Und während „Deine Schuld“ in die Zukunft deutet, ist in Schuld im Ahrtal noch zu viel Gegenwart los.

Das alte Tal ist weggespült, das neue noch nicht in Sicht

Auch ein Jahr später warten Betroffene in der Gegend noch: auf Geld, auf Handwerker, auf eine Perspektive. Das alte Tal ist weggespült, ein neues noch nicht in Sicht. Diejenigen, die sich beruflich mit der Zukunft beschäftigen, sagen aber: Genau jetzt ist die Zeit für Utopien. Analysten der Zurich-Versicherung etwa, die das Wetterereignis „Bernd“ und seine Folgen im Juli 2021 ausgewertet haben. Sie schreiben in einer sogenannten Ereignisanalyse:

Unmittelbar nach einem großen Hochwasserereignis bietet sich die beste Gelegenheit, Wandel anzugehen.

Experten der Zurich-Versicherung in ihrer Ereignisanalyse

So ähnlich, wenn auch in allgemeiner Form, findet man das auch beim Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker, der mit der Friedrich-Ebert-Stiftung den Sammelband „Utopien. Für ein besseres Morgen“ veröffentlicht hat. Darin beschreiben die Herausgeber, wie aus Umbrüchen utopische Ideen werden: „Durch Kritik und Offenlegung alter und neuer Missstände bergen Krisensituationen Chancen für eine grundsätzliche Neujustierung“, so die Autoren.

Sich die Zukunft bunt auszumalen, das wagen im Ahrtal aktuell die Wenigsten. Doch in der Utopie-Forschung lernt man: Krisenzeiten sind die besten Zeiten für große Zukunftsvisionen.
Sich die Zukunft bunt auszumalen, das wagen im Ahrtal aktuell die Wenigsten. Doch in der Utopie-Forschung lernt man: Krisenzeiten sind die besten Zeiten für große Zukunftsvisionen.
Foto: dpa

Anders gesagt: Im Moment der Zerstörung lässt sich oft genauer benennen, was falsch lief – und besser werden muss. Genau das hat die Rhein-Zeitung junge Bewohner im Flutgebiet gefragt: Wie sieht eure Utopie für das Ahrtal aus? Wie stellt ihr euch eure Heimat 2040 vor, wenn die erste Nach-Flut-Generation volljährig ist? Gesprochen haben wir mit Menschen, die sich für die Zukunft engagieren: Klimaaktivisten, Jungpolitikern, Schülervertretern und einer Biologin mit Kindern im Kitaalter.

Manche von ihnen wissen sehr genau, was sie wollen. Andere vor allem, was sie nicht wollen. Manche sind zuversichtlich, andere stellen ein Jahr nach der Flut enttäuscht fest: Schon vermeintlich kleine Besserungen scheinen unerreichbar weit weg.

Schon kleine Verbesserungen wirken im Ahrtal manchmal unerreichbar

So empfindet es Ragna Neumann-Franz. Die Biologin hat zwei Kinder, ihr Mann, ein BKA-Beamter, hat einen Sachbuchbestseller zur Flut geschrieben. Die Familie ist selbst betroffen. Jetzt macht Neumann-Franz sich dafür stark, dass Wildblumenwiesen entstehen, die Insekten als „Nektartankstelle“ ansteuern können. Ihre Utopie: „Kleine Paradiese für Mensch und Tier“, die nicht nur schön anzusehen sind, sondern auch Lebensräume bieten.

Ragna Neumann-Franz arbeitet mit ihrer Initiative
Ragna Neumann-Franz arbeitet mit ihrer Initiative „Lass es leben“ daran, im Ahrtal Schutzräume für Insekten möglich zu machen. Denn ohne Bienen beispielsweise geht auch uns schnell das Essen aus.
Foto: dpa

Damit ist sie hochaktuell: Die EU-Kommission hat gerade erst in Brüssel entsprechende Naturschutzziele formuliert. Und im Ahrtal? Hadert Ragna Neumann-Franz mit der Trägheit des Apparats. Anstatt von Blühstreifen, die was für die Artenvielfalt tun, würden in Bad Neuenahr-Ahrweiler wieder grüne Kurstadt-Wiesen gesetzt: reine Zierde, zu nix nütze.

Blumenwiese wäre durch Spende finanziert worden: Doch daraus wurde nichts

Deshalb hat Neumann-Franz zum Beispiel angeboten, mit Spenden eine öffentliche 100-Quadratmeter-Blumenwiese zu finanzieren. Doch der Vorschlag versandete wohl irgendwo im Mahlwerk einer Verwaltung, die selbst am Anschlag arbeitet. Nach anfänglichem Interesse sei es nicht weitergegangen, ohne Absage. Die Biologin zog ihr Angebot schließlich frustriert zurück:

Wiederaufbau ist für mich inzwischen fast schon ein Unwort. Denn der Wiederaufbau scheint sich zumindest im öffentlichen Bereich gerade so zu gestalten: Wir bauen wieder so auf, wie es vorher war. Und das kann eigentlich nicht das Ziel sein.

Ragna Neumann-Franz, Biologin aus dem Ahrtal

Wenn schon 100-Quadratmeter-Träume platzen, lässt sich dann überhaupt so richtig groß denken im Ahrtal? Die Gruppe Solahrtal tut das. Als deutschlandweite Modellregion könnte man bis 2030 oder gar 2027 vollständig mit erneuerbaren Energien auskommen, hat Solahrtal ausgerechnet. Die beteiligten Wissenschaftler sagen, das geht: wenn 35 Hektar Freiflächen und zahlreiche Dächer jedes Jahr mit Fotovoltaik bebaut werden und ab 2024 jährlich zehn Windkraftanlagen entstehen.

Leben auf der größten Baustelle Deutschlands: Vieles geht nur langsam

Für eine Modellregion ist auch Landrätin Cornelia Weigand. Doch die parteilose Chefin der Kreisverwaltung, in die viele Hoffnungen gesetzt werden, warb im Mai im Gespräch mit unserer Zeitung auch für Geduld: „Wir leben auf der größten Baustelle Deutschlands, und man darf nicht erwarten, dass wir innerhalb kürzester Zeit ein ganzes Tal wiederaufbauen. Das wäre utopisch.“ Ein Problem von vielen: Geld aus dem Wiederaufbaufonds des Landes darf, wie der Name schon sagt, nur für den Wiederaufbau benutzt werden – und nicht für ganz neue, eigentlich nachhaltigere Lösungen.

Cornelia Weigand ist als neue Landrätin für viele eine Art Hoffnungsträgerin. Doch sie mahnt auch zur Geduld beim Thema Modellregion und beim Wiederaufbau.
Cornelia Weigand ist als neue Landrätin für viele eine Art Hoffnungsträgerin. Doch sie mahnt auch zur Geduld beim Thema Modellregion und beim Wiederaufbau.
Foto: dpa

Dass Aufbau nicht gleich Aufbau ist, betont auch Nick Falkner. Der Bundeswehroffizier ist Vorsitzender der Jungen Union (JU) im Ahrtal und sitzt im Landesvorstand der CDU. Da hört man mutmaßlich eher selten Die Ärzte und pflegt den Ruf, sich mehr mit Handfestem als mit Utopien zu befassen. „Aber weißt du, was das Interessante ist? Dass Utopien aktuell realistisch sind“, sagt Falkner im Gespräch mit der Rhein-Zeitung.

Junge Union fordert einen charakterlichen Wiederaufbau im Ahrtal

„Wir fangen ja nahezu bei null an. Deswegen ist eigentlich fast alles denkbar.“ Auch Varianten, die der JU-Vorsitzende ablehnt. Der Begriff Neubau gefällt ihm gar nicht, auch das von Ragna Neumann-Franz verschmähte Wort Wiederaufbau hat einen Makel: dass man eben nicht die gleichen Fehler wie vorher machen möchte. Falkner plädiert deshalb für einen „charakterlichen Wiederaufbau“: Warum soll nicht ein modernes Gebäude eine Fachwerkverkleidung bekommen? Falkner ist sich sicher:

Das Ahrtal steht für das Heimelige. Das muss bleiben.

Nick Falkner, Vorsitzender der Jungen Union

Klar, wer im Ahrtal, wo laut Landesregierung fast 9000 Gebäude zerstört wurden, nach der Zukunft fragt, bekommt erst mal Antworten aus dem Bereich Infrastruktur: Flutsichere Häuser braucht man, die Elektrifizierung der Ahrtalbahn, Nahwärme, Glasfaser, Supermärkte. Doch wie bei CDU-Mann Nick Falkner schwenken die meisten Gespräche bald aufs Gefühl.

Am Ende geht es immer auch um Emotionen und ein Heimatgefühl

„Ich wünsche mir, dass die Eifel auch die Eifel bleibt. Es sollte ein Ort zum Wohlfühlen bleiben“, sagt Kevin Schmidt – wohlgemerkt kein Dehoga-Sprecher oder Touristiker, sondern 17-jähriger Schüler an der BBS Ahrweiler und Mitglied der Kreisschülervertretung. Wobei am Ende Hoffnungen und Infrastruktur wieder wechselwirken: Nach der Schule will Schmidt erst mal umziehen, anderswo erhofft er sich als Programmierer bessere Karrieremöglichkeiten.

Der Bundeswehroffizier, Gründer eines Spendenzentrums und JU-Vorsitzende Nick Falkner macht sich dafür stark, dass beim Wiederaufbau auch der Charakter der Region erhalten bleibt. Außerdem Teil seiner Utopie: Mandatsträger, auf die man sich verlassen kann.
Der Bundeswehroffizier, Gründer eines Spendenzentrums und JU-Vorsitzende Nick Falkner macht sich dafür stark, dass beim Wiederaufbau auch der Charakter der Region erhalten bleibt. Außerdem Teil seiner Utopie: Mandatsträger, auf die man sich verlassen kann.
Foto: Nick Falkner

Nick Falkner, dem Vorsitzenden der Jungen Union, sind für seine Utopie aber nicht nur Schienen und Chancen wichtig, sondern langfristig auch ein anderes Politikerbild. Eines, in dem nicht nur nach Sympathie gewählt wird und in dem Mandatsträger sich ihrer Verantwortung im Worst Case bewusst sind: „Utopisch gesprochen: Man wählt Menschen, die auch vorangehen müssen. Zu denen die Leute auch aufblicken können. Die sagen: Passt auf, ihr braucht keine Sorgen haben, ich kümmere mich.“ Ob genau so jemand in der Flutnacht Schlimmeres hätte verhindern können, ermitteln zurzeit unter anderem ein U-Ausschuss des Landtags und die Staatsanwaltschaft Koblenz.

Aktivistin von Fridays for Future sieht Chancen im Zusammenhalt nach der Flut

Naturgemäß hat man bei den Demonstranten von Fridays for Future dagegen eher wenig übrig für starke Führungsfiguren und Kümmerer. Die Bewegung ist basisdemokratisch organisiert, selbst über Kleinigkeiten wird in Ortsgruppen oft lange im Plenum diskutiert. Julia Wischnewski ist eine von denen, die mitmischt, wenn freitags auf Demos „Deine Schuld“ aus den Lautsprecherboxen kommt.

Bei Fridays for Future demonstrieren Klima-Aktivisten und Aktivistinnen etwa gegen die Abholzung von Wäldern oder für mehr Erneuerbare Energien. Wenn die Bonner Ortsgruppe unterwegs ist, ist auch Julia Wischnewski dabei.
Bei Fridays for Future demonstrieren Klima-Aktivisten und Aktivistinnen etwa gegen die Abholzung von Wäldern oder für mehr Erneuerbare Energien. Wenn die Bonner Ortsgruppe unterwegs ist, ist auch Julia Wischnewski dabei.
Foto: Simon Führmann

Der 17-Jährigen geht es um Klimagerechtigkeit, wie sie sagt: „Meine Utopie ist, dass wir nicht mehr die Interessen von Konzernen über unser aller Gemeinwohl stellen.“ Wie das gehen soll? Durch klimafreundlichere Technologien wie die etwa in Mayschoß, Dernau und Rech geplante Nahwärme. Aber auch durch Zusammenhalt.

Wir haben diese unglaubliche Welle der Solidarität hier erfahren.

Julia Wischnewski, Schülerin aus dem Ahrtal und Engagierte bei Fridays for Future Bonn

„Wir haben diese unglaubliche Welle der Solidarität hier erfahren“, sagt Wischnewski, „daran sieht man doch: Wenn wir zusammenhalten, können wir viel bewegen.“ Man müsse dafür aber auch die erfahrene Solidarität weitertragen, wenn weitere Krisen anstehen. Davon gibt es aktuell ja zuhauf, offensichtliche wie Krieg und Inflation und verstecktere wie die Krise der Artenvielfalt, gegen die Ragna Neumann-Franz kämpft.

Die Biologin will sich trotz der Enttäuschung mit der von ihr geplanten Blumenwiese nicht unterkriegen lassen. Sie setzt jetzt darauf, dass private Gärten und Balkone erblühen. Nick Falkner von der Jungen Union arbeitet ebenso tatkräftig an Zukunft und Gegenwart, er hat ein Spendenverteilzentrum gegründet, während die Schülerin Julia Wischnewski weiter mit Fridays for Future Bonn für eine gerechtere Zu- kunft streitet.

Und Kevin Schmidt, der weggeht, um womöglich als Programmierer Karriere zu machen, wird vielleicht irgendwann seine Fähigkeiten in der Heimat wieder einsetzen, wenn die Bedingungen stimmen. Ideen für eine bessere Zukunft, sie scheinen in den Köpfen da zu sein. Das Ahrtal muss sie jetzt auch nutzen.

Mehr zum Thema:
Hören Sie zum Thema Wiederaufbau auch die neue Folge unseres Podcasts RZInside: In der Episode „Ahrtal-Trauma und Klima-Angst: Wie kommen wir damit klar?“ erklären Fachleute und Betroffene, wieso der architektonische und der emotionale Wiederaufbau untrennbar miteinander verbunden sind.