Gipfel: Die europäische Familie ist gespalten

Jean-Claude Juncker wird wohl am 16. Juli zum Kommissionschef gewählt.
Jean-Claude Juncker wird wohl am 16. Juli zum Kommissionschef gewählt. Foto: dpa

Brüssel. David Cameron ist geladen, als er an diesem Freitagmorgen in Brüssel das Ratsgebäude zum EU-Gipfel betritt. „Es ist wichtiger, zu seinen Prinzipien und Überzeugungen zu stehen, als etwas zu tun, das man für grundlegend falsch hält“, schleudert er den wartenden Korrespondenten entgegen. „Und Jean-Claude Juncker ist definitiv der falsche Mann.“

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Von unserem Brüsseler Korrespondenten Detlef Drewes

In der Lobby des Sitzungssaals gibt es dieses Mal kein freundschaftliches Schulterklopfen, keinen Handschlag mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel oder dem französischen Staatspräsidenten François Hollande. Cameron, den die offizielle Sitzordnung zufälligerweise an das Ende des langen Tisches für die 28 Staats- und Regierungschefs sortiert hat, steht noch kurz mit der dänischen Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt und der litauischen Präsidentin Dalia Grybauskaite zusammen. Ein Blatt wird hereingereicht. Fast schon empört zeigt er es herum. Es enthalte einige Äußerungen Jean-Claude Junckers, heißt es. „Ich habe eine solche Feindlichkeit noch bei keinem europäischen Gipfeltreffen erlebt“, sagt später ein Tagungsteilnehmer. „Der Mann stilisiert sich zum Märtyrer hoch, um zu Hause gut auszusehen“, meint ein anderer. Thorning-Schmidt bemüht sich noch, dem wachsenden Konflikt zwischen dem Briten und dem Rest der EU die Schärfe zu nehmen. „Was wir tun, ist bedeutender, als wer es tut.“ Aber Cameron ist in Kampfstimmung. „Egal, wie hart es ist, ich werde es zu Ende bringen“, twittert er am Vormittag.

David Cameron
Der britische Premier David Cameron war gegen die Nominierung Junckers zum Kommissionpräsidenten.
Foto: Stephanie Lecocq

In der Nacht hatten mehrere andere Regierungschefs versucht, den Briten doch noch einzufangen. Am Freitagnachmittag sitzen Merkel und Cameron plötzlich mit ihren Beratern in einem Nebenraum, um einen letzten Versuch der Einigung zu wagen. Vergeblich. „Ich habe den Regierungschefs gesagt, es könne einen neuen Prozess zugunsten der EU geben, wenn man einen anderen Kommissionspräsidenten sucht“, sagt Cameron später selbst. So aber bleibt er dabei: Als es zum Schwur kommt, weil kein Konsens möglich ist, besteht der Premier auf einer Abstimmung fürs Protokoll. 26 Jastimmen, zwei Ablehnungen. Neben dem britischen Regierungschef hat auch Viktor Orban aus Ungarn an seinem Nein zu dem ehemaligen Luxemburger Kollegen festgehalten.

Juncker selbst sitzt derweil in einem offenen Hemd ohne Krawatte in einem nahen Lokal und wartet ab. Zu sprechen ist er nicht, macht er klar. Schon seit einigen Wochen schweigt der 58-jährige frühere Chef der Euro-Gruppe, der als Premier des Großherzogtums 18 Jahre selbst dem EU-Gipfel angehörte und weiß, wie es dort läuft. Nun sagt er nichts und bemüht sich, locker zu wirken. Als das Ergebnis kommt, lächelt er kurz, wird dann aber schnell wieder ernst, als ahne er die Last, die jetzt vor ihm liegt.

Gipfel hat ein Tabu gebrochen

Der EU-Gipfel hat ein Tabu gebrochen. Zum ersten Mal tritt eine Entscheidung in Kraft, obwohl es zwei Gegenstimmen ab. Die jahrelange Einigkeit ist dahin. „Er wollte die Niederlage“, sagt ein hoher EU-Diplomat. „Er wollte verlieren, die EU vorführen, um zu Hause als der bessere Europa-Gegner dazustehen.“ Der Eindruck stimmt: „Manchmal muss man eine Schlacht verlieren, um einen Krieg zu gewinnen“, wird Cameron später seine Niederlage kommentieren und betonen, dass er „immer für die Interessen des vereinigten Königreiches in der EU kämpfen“ werde.

Es ist der Schlusspunkt unter einer Entwicklung, von der viele sagen, sie habe bereits 2009 begonnen, als der Premier aus London seine konservativen Abgeordneten im Europäischen Parlament aus der gemeinsamen Fraktion mit den übrigen christdemokratischen Parlamentariern abzog und eine eigene konservative Gruppe gründete, die nun Zulauf auch von der AfD bekommen hat – übrigens gegen den ausdrücklichen Willen Camerons. „Er hat nicht verstanden, dass er mit solchen Aktionen bis hin zu der Konfrontation um Juncker den britischen Einfluss in der EU nicht gestärkt, sondern geschwächt hat“, sagt ein hochrangiger französischer Diplomat.

Offener Unmut der Staatschefs

Nach der Abstimmung habe es Kopfschütteln und offenen Unmut im Kreis der Staats- und Regierungschefs gegeben, berichten Teilnehmer. Unverständnis schlägt Cameron entgegen, der nun vor dem Problem steht, mit dem Mann an der Spitze der Kommission arbeiten zu müssen, den er so vehement bekämpft hat. Zumal London in dem wichtigsten EU-Gremium auf einem besonders gewichtigen Kommissarsposten besteht. Wie Cameron diesen Job von Juncker herausschlagen will, den er politisch so heftig ausgegrenzt hat und auch persönlich verunglimpfen ließ, erscheint vielen an diesem Freitag schleierhaft. Dabei hatte dieser Freitag zunächst ganz anders begonnen. Gegen letzte massive Warnungen aus Moskau, wo Vizeaußenminister Grigori Karassin vor „ernsten Folgen“ gewarnt hatte, unterschrieben die 28 Staatenlenker die Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, Georgien und der Republik Moldau. Kiews neuer Präsident Petro Poroschenko revanchierte sich auf seine Weise und verlängerte anschließend die Waffenruhe.

Aber als die Zeremonie schon in zurückhaltender Feierlichkeit zu versanden drohte, holte die EU noch zum großen Schlag aus und setzte den russischen Präsidenten Wladimir Putin unter Druck: Sollte der nicht bis Montag entscheidende Schritte tun, um die Krise mit der Ukraine zu entschärfen und „substanzielle Verhandlungen“ mit Poroschenko beginnen, werde die Union die nächste Stufe der Sanktionen ergreifen. Dann sollen Maßnahmen in Kraft treten, die die russische Wirtschaft treffen, auch wenn man sicher ist, dass sich Moskau dafür revanchieren wird. „Die gesamte EU zeigt sich solidarisch mit der Ukraine“, betonten die Gipfelteilnehmer einstimmig. Zu diesem Zeitpunkt waren sie es noch. Kurz darauf zerbrach die Front der Einigkeit über die Personalie Juncker.

Spaltung hinterlässt Narben

Die Spaltung der europäischen Familie kam zwar nicht überraschend, doch sie hinterlässt Narben. Vor allem deshalb, weil Cameron konsequent alle Versuche, ihn umzustimmen, abgelehnt hatte. Nach dem Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs in Ypern am Donnerstagabend hatte Ratspräsident Herman Van Rompuy den Staats- und Regierungschefs beim Abendessen eine „strategische Agenda“ vorgelegt, um die Meinungsverschiedenheiten zu versachlichen. In dem fünfseitigen Papier ist viel von Bürokratieabbau und Wettbewerbsfähigkeit die Rede. Die Bundeskanzlerin hatte in dem Kreis wiederholt, dass man einige inhaltliche Ziele deutlicher hervorheben könne, um London entgegenzukommen. Schließlich stehe Großbritannien mit seinem Wunsch nach einer Neuausrichtung der EU-Politik nicht allein da. „Wir können hier auch ein Stück auf Großbritannien zugehen.“ Sogar bei der Frage, ob der Stabilitäts- und Wachstumspakt geändert werden solle, um einigen Ländern mehr finanziellen Spielraum für Investitionen in den Arbeitsmarkt zu erlauben, verständigte man sich. Der Pakt bleibt „unangetastet“, wie es im Schlussdokument heißt. Aber die in dem Papier angelegte Flexibilität soll „bestens“ ausgenutzt werden, ergänzte man den Entwurf der Gipfelvereinbarungen.

Das hätte Cameron alles mittragen können, wenn er denn gewollt hätte. „Er hat sich verrannt und wollte um alles in der Welt Juncker verhindern“, bekräftigte ein Regierungschef aus Osteuropa im kleinen Kreis. Der Brite scheiterte. Bereits am 16. Juli soll der Luxemburger nun vom Europäischen Parlament gewählt werden – ein Akt, der nach der Zusage der Sozialdemokraten, den konservativen Wahlsieger der Europawahl mitzutragen, als reiner Vollzug gilt. Doch dem ist nicht so. In beiden großen Fraktionen hat Juncker Gegner. Inzwischen bemühen sich die Fraktionschefs, wenigstens noch die Liberalen mit ins Boot zu holen – zur Sicherheit. „Nicht auszudenken, wenn der Kandidat nach dem Theater im Rat nun im Parlament scheitern würde“, sagte ein hochrangiger EU-Diplomat.

Wenn EU-Gipfel zu Ende gehen, gibt es ein Ritual. „Das ist ein guter Tag für Europa“, lautet einer der Standardsätze, die jeder Staats- und Regierungschef vor den Medienvertretern zu wiederholen pflegt. An diesem Freitag taucht er nur selten auf. Als die Gipfelteilnehmer Brüssel verlassen, herrscht eine beklemmende Atmosphäre.