Salzburg

Der Meisterklinger von Salzburg

Ein Mann. Ein Befehl. Dutzende Streicher, Bläser und Schlagzeuger haben zu folgen. Macht manifestiert sich im klassischen Orchester unmittelbar sichtbar wie beim Appell auf dem Kasernenhof. Die Geste des Dirigenten als Auftakt eines Konzertabends nährt den Ruhm dessen, der vorn auf dem Podest seinen um einen Stab verlängerten Arm hebt, während die Masse vor ihm bis zum Schlussakkord gezwungen wird, zu reagieren.

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Von unserem Redakteur Jochen Krümmel

Kunst und Wille – keiner hat diesen Moment so bewusst verinnerlicht, gelebt und zelebriert wie Herbert von Karajan. So elegant und so dramatisch. So narzisstisch und so im Dienst der Sache. So versunken und so hellwach. Mit perfekt gestyltem Haar, meist geschlossenen Augen, auswendig dirigierend.

Doch nie hat ihn das Ergebnis restlos befriedigt. Immer war er auf der Suche nach dem Mehr, nach dem perfekten Klang, der reinen Schönheit. Auf Erden konnte er sie nicht finden. Weder im Konzertsaal noch im zu allen Manipulationen fähigen Plattenstudio, das er hemmungslos nutzte und dessen Möglichkeiten er bis zu seinem letzten Atemzug am 16. Juli 1989 auskostete und erweiterte wie kein anderer Dirigent vor ihm.

Auch ein Meister der Selbstinszenierung

Karajan, geboren am 5. April 1908 in Salzburg und nach Mozart der berühmteste Sohn der Stadt, stand zeitlebens für große Dimensionen: wirkungsmächtigster Dirigent des 20. Jahrhunderts, meistverkaufter Klassikkünstler, Meister der Selbstinszenierung, philharmonischer Imperator.

„Meine Zeit wird kommen“, prophezeite er 1946. Diese Aussage ist typisch für das Selbstbewusstsein jenes Dirigenten, der zur Ikone seiner Zunft werden sollte und die Zeichen der Zeit stets zu seinen Gunsten zu nutzen wusste. 1946 war der erfolgversprechendste unter den deutschen Nachkriegsdirigenten im Rahmen der Entnazifizierung mit einem Berufsverbot belegt worden, weil er sich als NSDAP-Mitglied seit 1933 willig zum Instrument der Propaganda hatte machen lassen.

Protest verstummte mit der Zeit

Doch Karajan sollte recht behalten, seine Zeit brach an. Bereits im September 1946 begann die langjährige Zusammenarbeit mit dem legendären britischen Schallplattenproduzenten Walter Legge, ein Jahr später hob die russische Militärbehörde in Wien das Berufsverbot für den Österreicher auf. Nur noch einmal, 1955 auf einer USA-Tournee, regte sich ernsthaft Protest gegen Karajans Aufstieg während und nach der Nazizeit.

Als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker führte er das Orchester seit 1956 durch eine Symphonie fantastique von weltweiten Tourneen und Triumphen. Bis zum bitteren Finale in Moll, als Karajan im April 1989 – nach langem Streit und von Krankheiten gezeichnet – den lebenslangen Vertrag mit „seinen“ Berlinern kündigte, die ihres Alleinherrschers überdrüssig geworden waren.

Von Anfang schrieb Karajan, der 1934 in Aachen zu Deutschlands jüngstem Generalmusikdirektor aufgestiegen war, Interpretationsgeschichte. Eine Aufführung von Wagners „Tristan“ markierte 1938 den Durchbruch. Zu Recht begann sich der damals wichtigste Sendbote deutscher Musikkultur, Wilhelm Furtwängler, vor dem charismatischen Gipfelstürmer zu fürchten. Karajan brach mit dem Musikverständnis von Poesie und Pathos, wie es Furtwängler vertrat, indem er das Verhältnis von Detail und Großform mehr und mehr zugunsten der Großform entschieden hat. Ansatzgeräusche der Instrumente verschwinden, Taktschwerpunkte verschwimmen, während der große Bogen und homogene Gesamtklang im Vordergrund stehen.

Von Kritikern als Breitwand-Sound verschrieen

Der üppige Karajan-Klang, von Kritikern als Breitwand-Sound verschrien, war jahrzehntelang ein Verkaufsschlager der E-Musik-Industrie. Der schmächtige Österreicher mit dem großen Sendungsbewusstsein verkörperte den Dirigenten modernen Zuschnitts, der privat Flugzeuge, Jachten und schnelle Autos liebte sowie produktionstechnisch allen anderen Dirigenten voraus war – und er stand für den glanzvollen Aufstieg einer Generation, die der historischen Bilanz zum Trotz mit sich im Reinen war. An der zeitgenössischen Musik wollte er sich nicht abarbeiten, und die historische Aufführungspraxis war damals eine Nische seltsamer Einzelgänger.

Beethoven, Brahms und Bruckner, Verdi und Wagner – Karajans Domäne waren die großen Proportionen. Das gilt zum einen für seine Interpretationen. Ebenso sicher war das Gespür des Multimedia-Pioniers für den Markt: 1980 erschien mit Mozarts „Zauberflöte“ die erste digital eingespielte Opernaufführung, 1982 gründete er eine eigene Firma und brachte in den sieben Jahren bis zu seinem Tod 45 Videoproduktionen von Opern und Konzerten auf den Markt. Seine Obsession für die Studioproduktion war stilbildend. Der Karajan-Klang entstand im Schneideraum, das Abmischen war keineswegs dem Tonregisseur vorbehalten, und so erstaunt es nicht, dass Karajan davon sprach, sich mit den Berliner Philharmonikern „ein Instrument“ geschaffen zu haben.

„Fleiß statt Kunst“ hatte ihm sein Vorgänger in Berlin, Furtwängler, bereits früh vorgeworfen. Und der Musiktheoretiker Theodor W. Adorno räsonierte später: Karajan, der „Dirigent des Wirtschaftswunders“, biete nur das Sinnliche. Wahre Interpretation müsse aber alle Relationen sichtbar machen, sei gleichsam die Röntgenfotografie des Werkes. Karajan antwortete nicht unwitzig, es genüge, die sinnliche Erscheinung vollkommen darzustellen, die Struktur teile sich dann ohnehin mit: „Wenn ich eine Frau liebe, will ich ihren Leib, nicht ihre Röntgenfotografie.“