Auf die Plätze, fertig, Festschmaus!
Einiges, meint man den Gesichtern der Servicebrigade vor ihrem ersten Auftritt im Laiendormitorium von Kloster Eberbach abzulesen. Denn sie hat darauf zu achten, dass keins der 10.800 Besteckteile, die während der kommenden sechs Stunden zum Verspeisen der sechs Gänge gebraucht werden, irgendwann irgendwo bei irgendwem fehlt. Sie muss nicht bloß das Geschirr fest im Griff haben, sondern auch den eigenen Gesichtsausdruck, damit beim Platzieren des letzten Tellers in diesem Küchenmarathon nicht versehentlich das Lächeln verrutscht. Zudem herrscht trotz Weitläufigkeit dichtes Gedränge. Der Ansturm war groß, da lässt ein guter Gastgeber die Stühle auf Tuchfühlung rücken. Full House – die 28. Auflage des Galadinners im denkmalgeschützten Kloster bricht den Besucherrekord. Gemessenen und gesitteten Schritts durchs Gewühl, herrje, wie bewahrt man da den Überblick?
Den sechs Kochberühmtheiten und ihrer 35-köpfigen Herdbrigade sollte angesichts dieser Lage der Schweiß auf der Stirn stehen. In der Küche herrscht gerade aber bloß angespannte Ruhe vor dem ausbleibenden Sturm. Der erste Gang, getrüffeltes Geflügel-Gänseleberparfait im Baumkuchenmantel mit Apfelsalat und Rieslinggelée, wird kalt serviert und ließ sich damit ohne Eile vorbereiten. Als Nächstes steht Dieter Müllers Curry-Zitronengrassuppe mit Jakobsmuschelspieß an. „Die besteht aus nur zwei Komponenten“, erklärt Hans Stefan Steinheuer, der mit Kollege Burkhard Schork am Ausgang der Küche steht und entspannt die Arme verschränkt hält. Währendessen geben 35 ameisenfleißige Helfer am Herd ihr Bestes, damit 650 Suppenterrinen zur selben Zeit und mit heißem Inhalt zu den Gästen an den Tisch kommen. Um ihnen die Wartezeit zu vertreiben, spielt Fußballkommentator a. D. Béla Réthy den Köchen beim Pausenplausch auf der Bühne gekonnt ein paar lockere Bälle zu. Dieter Müller, unter den Legenden der Legendärste, erzählt, dass es zu Hause wenig Fleisch gegeben hat. „Ich bin ein Soßenverrückter“, gesteht der Dreisternekoch, der einem Gros der aktuellen Spitzenköche das Handwerk beigebracht hat. Auch Hans Stefan Steinheuer (Alte Post, Heppingen) und Johann Lafer (Stromburg, Stromberg) gingen durch seine Schule. Lektion des Küchengroßmeisters: „Die Soße macht das Gericht!“
Um die im Kloster überhaupt kochen zu können, hat die Küchenbrigade nicht bloß die Zutaten, sondern auch sämtliches dafür nötige Gerät mitgebracht. „Die Küche ist ein leerer Raum mit Steckdosen“, beschreibt Mathias Ganswohl die Ausgangslage an diesem sakralen Ort, an dem sich nunmehr erneut, das kann man wohl sagen, ein Küchenwunder ereignet hat. „Die Köche arbeiten hier übrigens für die Ehre, die kriegen nur den Wareneinsatz bezahlt – da ist Networking gefragt“, schiebt der VDP-Geschäftsstellenleiter nach. Damit jeder Gast auch etwas zu trinken hat, spenden 30 Winzer ihre Weine. Jeweils zwei Weingüter teilen sich die Gastgeberschaft für einen Tisch und begleiten jeden Gang mit zwei passenden Weinen – so entsteht für jeden Tisch ein anderes Menü, weil jeder Wein die Speisen auf dem Teller auf seine Art stilistisch beeinflusst.
Jörg Müller zeigt mit seinem eingangs schon erwähnten Geflügelleberparfait, wie man mit Handwerk auf Spitzenniveau und individueller Handschrift einen Küchenklassiker prägt: Die Leichtigkeit, die er angesichts des gehörigen Fettgehalts auf den Teller zaubert, versetzt auch 42 Jahre, nachdem er sein Meisterstück kreiert hat, noch in Staunen. Während Burkhard Schorks Perlhuhnbrust auf Polenta und Tomaten-Gemüsesugo die Strahlkraft des deutschen Küchenwunders auf andere Weise zeigt: Mediterrane Küche, einst Zeichen für Weltgewandtheit und Exotik, ist heute Usus in jeder Studentenküche – eine Weitung des kulinarischen Horizonts, die inzwischen kaum noch einen freut. Hans Stefan Steinheuer rettet aus der Besteckbredouille, weil sich sein Spessartreh, auf Niedrigtemperatur butterzart gegart, zur Not auch mit dem Löffel essen lässt. Das Rätsel des Abends gibt Johann Lafer den Gästen auf, die sich angesichts der Maroneneisnocke auf ihrem Dessertteller fragen, wie es sein kann, dass die auch den letzten der 650 Gäste noch in gefrorenem Zustand erreicht.
Was man hier fürs Weihnachtsmenü zu Hause lernt? Erstens: Gut geplant ist halb gewonnen. Zweitens: Über kleine Patzer auf dem Teller helfen wohlmeinendes Gastgebertum und eine heimelige Atmosphäre locker hinweg. Drittens: Ein Festschmaus aus Klassikern kann zweierlei bedeuten: Übung macht den Meister, die Gerichte klappen aus dem Effeff – bestenfalls heulen die Gäste vor Wiedersehensfreude, schlimmstenfalls droht Langeweile, denn kulinarische Avantgarde ist das natürlich nicht.
NICOLE MIEDING