Interview: Ist hier das Ende der Willkommenskultur?

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Immer lauter wird die Kritik an der derzeitigen Flüchtlingspolitik. Unter Bürgern wächst Widerstand – und die Angst vor Fremden. Können wir uns eine Willkommenskultur weiter leisten? Rückt die Gesellschaft nach rechts? Das fragten wir den Sozialwissenschaftler Günter J. Friesenhahn.

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Herr Friesenhahn, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema Migration und Integrationspolitik. Können Sie uns erklären, woran’s derzeit klemmt?

Es gibt für die jetzigen Anforderungen aus meiner Sicht kaum Konzepte, weil die Integrationskonzepte, die wir bislang hatten, Resultat einer langen Entwicklung waren, die 1955 mit der Anwerbung der ersten Gastarbeiter aus Italien begonnen hat. Schon 20 Jahre später wurde erkennbar, dass das ursprüngliche Konzept nicht aufging: Die wollten nicht mehr zurück, sondern ihre Familien nachholen. Der dramatische Unterschied zu heute besteht darin, dass der Zuwachs an ausländischer Bevölkerung in den vergangenen Jahren stets auf einem Niveau war, das sich kalkulieren ließ. Aber die Zahl, die 2015 entstand – nämlich eine Million plus -, hat es in der Bundesrepublik noch nie gegeben. Insofern kann man die Konzepte der Integration ausländischer Arbeitnehmer und von deren Familien nicht eins zu eins auf die aktuelle Situation übertragen.

Der Unmut gegenüber der aktuellen Flüchtlingspolitik wächst. Regis-trieren Sie das auch?

Ja, die Stimmung kippt. Das hat sicherlich etwas mit der hohen Zahl zu tun. Und damit, dass die Menschen Klarheit haben wollen. Das ist ein menschliches Grundbedürfnis. Die derzeitige Politik erweckt nicht den Eindruck, einen guten Plan zu haben. Auf der anderen Seite ist es simpel, mit vereinfachenden Parolen „klare Kante“ zu zeigen, aber keine Konzepte mitzuliefern, wie auf der Grundlage der Menschenrechte Integrationspolitik umgesetzt werden soll. Jedenfalls wird das nicht vermittelt.

Spüren Sie noch etwas von der viel gelobten Willkommenskultur?

Die Zustimmung zur Zuwanderung ist nicht mehr so hoch wie noch im November. Das Erstaunliche ist doch aber, dass das Engagement von Hunderttausenden ehrenamtlichen Helfern über einen so großen Zeitraum bis heute anhält. Obwohl es sich bei den Aufgaben, die zu bewältigen sind, ja eigentlich um staatliche Aufgaben handelt.

Ist das für den Staat nicht eine Bankrotterklärung?

Es ist sicher keine Bankrotterklärung der Politik, wenn die Zivilgesellschaft in einem Staat funktioniert. Nur ist sie keine verlässlich steuerbare Größe. Wir können froh sein, dass es im Moment viele Freiwillige gibt, die sich an der Flüchtlingsarbeit beteiligen. Aber wir können uns nicht darauf verlassen, dass das so bleibt. Was wir bisher hatten, ist eine enorm gut gelaufene Notfallversorgung, die jetzt aber in eine gut organisierte, professionelle Form von Unterstützung übergeleitet werden muss. Das können Ehrenamtler in der Regel nicht tun, weil sie es ja in ihrer Freizeit machen und nicht permanent zur Verfügung stehen.

Wer soll den Job übernehmen?

Wir brauchen in der Versorgung der Geflüchteten kompetente Sozialarbeiter. Das ist das Kerngeschäft der sozialen Arbeit – derer, die sich für Menschen einsetzen, die in einer schwierigen Lebenssituation sind. Wir brauchen aber auch günstige Rahmenbedingungen, die muss die Politik liefern. Und wir brauchen die Einsicht, dass es anstrengend werden wird und Zeit braucht.

Seit Silvester ist der Ton der Debatte rauer. Politisch korrektes Formulieren ist verdächtig, Männer aus Nordafrika werden als potenzielle Täter wahrgenommen. Welche Rolle spielen kulturelle Unterschiede in diesem Konflikt?

Dass Vorkommnisse wie in Köln zu Empörung führen, ist doch klar. Das waren Straftaten. Es ist aber ein Missverständnis, zu glauben, dass junge nordafrikanische Männer nicht wissen, dass man deutsche und andere Frauen nicht einfach begrapschen darf. Da muss man genauer analysieren.

Die Integrationsdebatte der vergangenen Jahrzehnte hat sich im Wesentlichen auf den Punkt Kultur und kulturelle Verschiedenheit konzentriert. Integration hängt aber auch von der Möglichkeit einer Teilhabe an der Gesellschaft ab. Teilhabe über den Arbeitsmarkt, den Wohnungsmarkt, eine Ressource wie Anerkennung. Ein Luxemburger, der unterhalb der Armutsgrenze lebt und nach Deutschland zieht, wird auch Integrationsprobleme haben. Eine deutsche Familie, die an der Armutsgrenze lebt – und wir haben etwa zwölf Millionen Deutsche, denen dieses Schicksal widerfährt -, hat ebenfalls Schwierigkeiten, sich in die Gesellschaft zu integrieren, in der Konsum eine große Rolle spielt. Obwohl sie dieselbe Sprache wie ihr Nachbar spricht. Insofern ist die Konzentration auf Kultur und Werte meines Erachtens maximal die halbe Miete. Aber wir müssen auf die Werte einer aufgeklärten Gesellschaft als Bezugsrahmen für soziales Verhalten und Handeln von allen Menschen bestehen.

Wie lässt sich einem Phänomen wie den Übergriffen in Köln begegnen?

Dort wurde unsere Rechtsordnung, das Gewaltmonopol des Staates missachtet. Das können wir nicht hinnehmen, weil auch für Ausländer Gleichheit vor dem Gesetz gilt. Dafür haben wir Regeln.

Wir bringen längst nicht jedem Fremden dasselbe Maß von Misstrauen entgegen. Gibt es so etwas wie gute und böse Flüchtlinge?

Manchmal hilft der Blick in die Vergangenheit. Es gab immer schon unterschiedliche Bewertungen der Bevölkerungsgruppen, die zu uns gekommen sind. Das fing mit den polnischen Arbeitern an, die im Rahmen der Industrialisierung ab 1870 ins Ruhrgebiet eingewandert sind. Die hatten große Schwierigkeiten, Anerkennung in der Bevölkerung zu finden. Das hat sich ja komplett aufgelöst. In den 1960er-Jahren konnte man Schilder an deutschen Gaststätten sehen „Für Italiener keinen Zutritt“. Heute sind wir froh, wenn wir einen Platz im italienischen Restaurant ergattern. Mittlerweile sind die klassischen Gastarbeiterländer Spanien, Portugal, Italien, Türkei mit einem relativ positiven Ansehen verknüpft. Auch, weil es Urlaubsländer sind. Das hat sicher mit dem Kennenlernen zu tun. Der Faktor Zeit ist nicht allein entscheidend, wenn es um Anerkennung geht.

Neu seit den Anschlägen vom 11. September ist die große Rolle, die Religion nun spielt. Die Verknüpfung mit den negativen Aspekten des Islamismus hat natürlich auch eine Bedeutung bei der Bewertung von Flüchtlingen, die aus islamisch geprägten Ländern kommen. Im Moment haben syrische Familien sicherlich noch hohe Sympathiewerte. Dass Familien mit Kindern in der Regel mehr Mitleid, Solidarität und Zuvorkommen genießen als junge Männer, ist, glaube ich, nachvollziehbar. Letztere sind aber die mit Abstand größte Gruppe unter den Flüchtlingen.

Merkels „Wir schaffen das“ wirkt wie ein einsamer Ruf im Wald ...

Ich glaube, die Ursache dafür ist zum Teil ein ganz praktisches, organisatorisches Problem. Wir können in diesem Jahr schlicht nicht noch einmal die gleiche Anzahl von Menschen unterbringen. Jedenfalls nicht in einem für Deutschland angemessenen Niveau. Der milde Winter hat uns einige schreckliche Nachrichten erspart. Aber es ist festzustellen, dass Kapazitäten angesichts des Tempos, mit dem Menschen zu uns kommen, im Moment an eine Grenze stoßen. Weil eine menschenwürdige Unterbringung schwierig wird. Man muss aber das Positive hervorheben: Es ist bislang gelungen, eine Million Flüchtlinge unterzubringen. Durch die unglaubliche Hilfsbereitschaft von Menschen, die ja nicht nur ihre Kleiderschränke ausgeräumt haben, sondern von morgens bis abends irgendwo stehen, Brötchen schmieren, Tee kochen, Kindern helfen, in die Schule zu kommen, Deutschkurse geben, zu Ärzten begleiten … Das ist eine bemerkenswerte soziale Leistung, die die deutsche Bevölkerung da hingelegt hat.

Andererseits herrscht in der Zivilgesellschaft ein Unbehagen. Es nimmt Gestalt an in wachsenden Bewegungen wie der AfD und Pegida. Wie beurteilen Sie das?

Zivilgesellschaft bedeutet ja auch, dass gesellschaftliche Herausforderungen von Menschen angenommen und angepackt werden, die nicht im Auftrag des Staates handeln. Das hat gute Tradition in der bürgerlichen Gesellschaft. Idealerweise ist der Begriff Zivilgesellschaft mit der Lebensweise freier Bürger und demokratischer und gerechtigkeitsorientierter Gesinnung verknüpft. Damit verknüpft ist auch eine kritische Funktion gegenüber den herrschenden Entscheidungsinstanzen der Politik, der Wirtschaft und öffentlichen Verwaltung. Man könnte sagen, es geht um das Sich-Kümmern, um das Soziale, um Öffentlichkeit, die Tatsache, dass andere Menschen einem nicht egal sind, oder auch um gerechte Verhältnisse. Der Begriff Zivilgesellschaft war bisher durchweg positiv belegt. Man muss aber sehen, dass auch Pegida ein Teil der Zivilgesellschaft ist. Das ist für viele Menschen, die sich wirklich im klassischen Sinne zivilgesellschaftlich engagieren, schwer erträglich, weil es den Sinn des Wortes auf den Kopf stellt.

Die Politik nimmt die Ängste der Bürger wahr und reagiert darauf. Parteien aller Couleur wollen die Zuwanderung beschränken. Rückt unsere Republik nach rechts?

Das Potenzial von Menschen, die vor Fremden, vor Neuem und Unbekanntem Angst haben, ist immer vorhanden. Nur die Ausdrucksformen dieser Ressentiments ändern sich im Laufe der Zeit. Auch hier ist sicherlich der Blick zurück nicht schlecht: Wir hatten auch in den 1960er/70er-Jahren eine erstarkte Rechte in Deutschland. Damals waren es die NPD und die Republikaner, die auch in einige Landesparlamente und ins Europaparlament Einzug halten konnten. Im Moment hat die AfD Zulauf, den man beachten muss und der sich in den Landtagswahlen auswirken wird. Politik muss aber mehr sein als kurzfristiges Lavieren mit lautem Getöse auf einem Politikfeld. Gefragt sind doch langfristige Strategien, die in unserer global vernetzten Welt nicht mehr in nationalen Alleingängen umzusetzen sind. Europa rückt insgesamt nach rechts, und einige scheinen die Zukunft durch rückwärtsgewandte nationalstaatliche Politik gestalten zu wollen. Das ist fatal.

Wie kann ein wachsender Teil der Bevölkerung, der seinen Unmut laut äußert, zu seinem Recht kommen?

Ich glaube, Politik ist immer dann nachvollziehbar, wenn sie das erreichen kann, was sie verspricht. Aber die Versprechen „Wir begrenzen die Flüchtlingszahlen“ sind realistischerweise nicht einzuhalten. Das heißt, wir haben es mit Politikprogrammatik zu tun, die in der Realität schwer umzusetzen sein wird. Denn was passiert denn, wenn Deutschland die Grenzen schließt? Wir haben europäische Verträge, die die Freiheit des Binnenmarktes in den Bereichen Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräfte und Kapital betreffen und auch garantieren. Man denke allein an den volkswirtschaftlichen Schaden, der entstehen würde, wenn sich in Kufstein die Lastwagen stauen und Just-in-time-Produktionen nicht mehr funktionieren. Die Kehrseite der Grenzschließungen beträfe ja nicht nur die Flüchtlinge, sondern die gesamte deutsche Bevölkerung, weil die selbstverständlich gewordenen Annehmlichkeiten nicht mehr zum Zuge kämen. Natürlich hat jeder Staat das souveräne Recht, zu wissen, wer sich dort aufhält. Aber ich glaube, im Moment kann es nur eine Lösung auf europäischer, also transnationaler, Ebene geben. So wenig wir das Thema Klimawandel national lösen können, geht das beim globalen Thema Flucht und Vertreibung. Da müssen die Staaten gemeinsame Lösungen produzieren.

Auch den Medien schlägt derzeit Misstrauen entgegen. Was hat die Presse falsch gemacht?

Es geht weniger darum, was sie falsch gemacht hat, sondern vielmehr um die Frage, wie Kommunikation heute läuft: Wir haben es mit Veränderungen der Produktion und Wahrnehmung von Information und Kommunikation zu tun. Früher hatte man wenig Information, musste sie sich sorgfältig irgendwo suchen und hat so einen individuellen Anteil am Ergebnis gespürt. Heute haben wir es mit einem Überfluss an Information zu tun, den man nicht mehr sortiert kriegt. Dazu kommt, dass die Quellen sehr unterschiedlich gewertet werden. Die Twitternachricht eines Freundes oder aus einem Netzwerk vermittelt mir das Gefühl, an der Geschichte ist etwas authentisch. So wird eine subjektive Einzelnachricht schnell zur allgemeinen Gewissheit erhoben. Dass hinter seriösen Presse- und Medienberichten sorgfältige Recherchen stehen, wird übergangen.

Ob Menschen sich in bestimmten Kreisen von der Presse hintergangen fühlen und damit zum Ausdruck bringen, dass sie belogen und instrumentalisiert werden, liegt am Empfinden dieser Menschen. Es ist nicht auszuschließen, dass in einer Zeitung auch mal was Falsches steht. Aber die Tendenz, daraus abzuleiten, dass unsere vierte Gewalt im Lande kollektiv mitverantwortlich dafür sei, zur Verdummung des Volkes beizutragen – das ist ja der Hauptvorwurf, der mit „Lügenpresse“ verbunden wird: Falschinformation, Verdummung, Verzerrung der Realität -, ist eine Auffassung, die sich aus meiner Sicht schwer nachvollziehen lässt.

Wie können sich Medien ihre Glaubwürdigkeit bewahren?

Dazu gibt es eine Erkenntnis aus der Sozialwissenschaft: Menschen, die eine feste Überzeugung haben, kriegen Sie auch mit rationalen Argumenten nicht umgebogen.

Das Gespräch führte Nicole Mieding

Zur Person:

Prof. Dr. Günter J. Friesenhahn studierte Erziehungswissenschaft, Soziologie und Psychologie und beschäftigt sich auch im internationalen Rahmen mit Themen der europäischen Integration, Migration und Mobilität sowie Interkulturalität. Friesenhahn ist Dekan des Fachbereichs Sozialwissenschaften der Hochschule Koblenz und Gastprofessor in der Fakultät für Philosophie und Kultur an der Universität Ca' Foscari Venedig.