Der Anwärter: Serbien hofft auf den EU Beitritt bis 2020

Serbien gibt sich in der Flüchtlingskrise große Mühe, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Das Balkanland will in die Europäische Union. Noch im Dezember könnte das erste Verhandlungskapitel eröffnet werden. Es ist zugleich das schwierigste: Serbiens Verhältnis zum Kosovo.

Lesezeit: 6 Minuten

Stefan Hantzschmann analysiert Serbiens Fortschritte als Kandidat für einen Beitritt zur Europäischen Union.

Karo hat es eilig. Er ist ohnehin schon spät dran. Auf der Balkanroute wird es kalt, vor allem nachts, und Karo hat noch mindestens 750 Kilometer vor sich. Morgen schon, sagt er, will er das Flüchtlingslager Principovac an der serbisch-kroatischen Grenze wieder verlassen, obwohl er erst vor gut zwei Stunden hier angekommen ist. Karo ist mit seinem Onkel und dessen fünfjährigen Sohn Tischko aus dem Irak geflohen, vor den Daesh, wie er sagt, den Anhängern des Islamischen Staats. „Daesh haben seine Mutter umgebracht“, flüstert Karo, damit es der kleine Junge nicht hören kann.

Flüchtlinge in Serbien

Stefan Hantzschmann

Flüchtlinge in Serbien

Stefan Hantzschmann

Flüchtlinge in Serbien

Stefan Hantzschmann

Flüchtlinge in Serbien

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Flüchtlinge in Serbien

Stefan Hantzschmann

Flüchtlinge in Serbien

Stefan Hantzschmann

Flüchtlinge in Serbien

Stefan Hantzschmann

In Principovac ist Karo zusammen mit etwa 80 weiteren Flüchtlingen in einem ehemaligen Kinderkrankenhaus untergebracht. Kaum einer hier will lange in Serbien bleiben, die meisten planen, nach ein bis zwei Tagen weiterzuziehen, manche wollen noch am selben Tag weiter. Es gibt Essens- und Hygienepakete, Dutzende Smartphones hängen an Verteilersteckdosen und ziehen neue Energie. Das Klinikgebäude wurde zehn Jahre lang nicht genutzt. Für die Flüchtlinge hat die serbische Regierung die Elektrik und die Wasserleitungen wieder in Schuss bringen lassen. Draußen vor dem Haus stehen Zelte bereit, falls der Platz im Gebäude nicht ausreicht.

Jeden Tag kommen Tausende nach Serbien. Bis Oktober zogen allein in diesem Jahr mindestens 220.000 Flüchtlinge, die registriert wurden, durch das Land. Serbien gibt sich in der Flüchtlingskrise große Mühe, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Seit sechs Jahren arbeitet der Balkanstaat daran, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Jetzt, da selbst EU-Mitgliedstaaten wie Ungarn oder Kroatien wegen ihrer Flüchtlingspolitik in die Kritik geraten, will Serbien vor der Gemeinschaft mit seinem Krisenmanagement glänzen.

Und so sitzt der serbische Ministerpräsident Alexander Vucic an einem Herbsttag in seinem Belgrader Regierungssitz und sagt Sätze wie „Die Flüchtlinge sind in Serbien willkommen“ und „Wir wissen, wie wir unsere Empathie zeigen können mit den Menschen, die in Gefahr sind.“ Vucic atmet schwer, macht lange Pausen, bevor er auf eine Frage antwortet.

Es gab eine Zeit, da sagte Alexander Vucic ganz andere Sätze als heute. Zum Beispiel diesen: „Für jeden toten Serben werden wir 100 Muslime töten.“ Das war wenige Tage nach dem Massaker von Srebrenica, bei dem serbische Milizen rund 8000 muslimische Bosniaken ermordeten. Längst hat sich Vucic von seinen nationalistischen Äußerungen aus der Zeit der Jugoslawienkriege distanziert, eingeräumt, mit seinen Ansichten falsch gelegen zu haben. Mittlerweile gibt er sich als Europäer. Mit dem Versprechen, Kurs auf einen raschen EU-Beitritt zu halten, gewann seine Partei SNS die Wahlen haushoch. Sein Bündnis hat im Parlament 208 der 250 Mandate.

Ein klares Bekenntnis zur EU, könnte man meinen, doch die Serben sind hin- und hergerissen: Laut einer Umfrage für die Nachrichtenagentur Beta und die Europäische Union sind 54 Prozent der Serben für einen EU-Beitritt ihres Landes, 25 Prozent sprechen sich dagegen aus. Gleichzeitig haben nur 32 Prozent der Befragten eine positive Einstellung zur EU, zu Russland hingegen 52 Prozent. Einer anderen repräsentativen Umfrage zufolge – von der Zeitung „Politika“ in Auftrag gegeben – befürworten mehr als 61 Prozent der Serben einen Bund mit Russland, nur 44 Prozent einen Beitritt zur EU.

Serbiens Weg in die Europäische Union ist in 35 Kapiteln niedergeschrieben. In jedem einzelnen Kapitel stehen die Hausaufgaben, die Belgrad erledigen muss, um der EU beitreten zu können. Seit 2012 gilt das Land als Beitrittskandidat, im Januar 2014 begannen die Verhandlungen offiziell. Bislang konnte noch nicht ein einziges der 35 Verhandlungskapitel geöffnet werden. Und Brüssel besteht darauf, mit Kapitel 35 zu beginnen – ausgerechnet. Serbien soll in diesem Kapitel seine Beziehung zum Kosovo normalisieren.

Der serbische Präsident Tomislav Nikolic
Der serbische Präsident Tomislav Nikolic
Foto: Stefan Hantzschm

Im Gegensatz zu seinem Parteikollegen Vucic muss der serbische Präsident Tomislav Nikolic an diesem Herbsttag in Belgrad nicht lange über die Sätze nachdenken, die er sagen will. Nikolic fackelt nicht lang. Er gießt seinen Standpunkt in eine einfache, unmissverständliche Formel: „Ich möchte, dass Serbien Mitglied der EU wird. Serbien wird nie die Unabhängigkeit des Kosovo anerkennen.“ Auf die Frage, was sich für die Menschen in Serbien ändern würde, wenn das Land Kosovo als unabhängig anerkennt, poltert er: „Ich glaube, in Serbien würde es zu einem Bürgerkrieg kommen. Davon bin ich völlig überzeugt.“ Nikolic war während der Jugoslawienkriege ein Führer der Tschetniks – das sagte er selbst einmal in einem Interview. Die Tschetniks galten in den 90er-Jahren als besonders brutale serbische Nationalisten. Etliche von ihnen mussten sich später als Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verantworten.

Für serbische Nationalisten wie Nikolic ist das Kosovo „heilige Erde“. Wichtige Kulturgüter der orthodoxen Kirche stehen dort. 1998 war die Region eine serbische Provinz innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien, die damals schon nur noch aus Serbien und Montenegro bestand. Als sich das mehrheitlich von Albanern bewohnte Kosovo mit Gewalt abspalten will, antwortet Belgrad ebenfalls mit Gewalt. Wieder führt Serbien Krieg. Mitglieder des Militärbündnisses Nato – darunter Deutschland – fürchteten damals, dass es erneut zu Massakern kommen könnte. Bomben fliegen auf Belgrad und andere serbische Städte, zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sind deutsche Soldaten an einem Kampfeinsatz beteiligt. 2008 erklärte Kosovo seine Unabhängigkeit, die Belgrad bis heute nicht anerkennt.

Nach Ansicht der Konfliktforscherin Prof. Solveig Richter wird Serbien das Kosovo auch in absehbarer Zeit nicht anerkennen. „Warum sollten sie auch? In der EU selbst gibt es fünf Mitgliedstaaten, die Kosovo nicht anerkennen.“ Griechenland, Rumänien, die Slowakei, Spanien und Zypern erkennen die Unabhängigkeit des Landes bislang nicht an – unter anderem weil etwa Spanien und Zypern fürchten, dass separatistische Bewegungen in ihrem eigenen Land es dem Kosovo gleichmachen könnten. Richter geht davon aus, dass das Verhandlungskapitel 35 (Normalisierung der Beziehungen Serbiens zum Kosovo), trotzdem bald geöffnet werden kann. „In der Kosovofrage wird zwischen der EU und Serbien viel Symbolpolitik betrieben. Man wird sich auf etwas einigen, um das Kapitel zu öffnen, aber ein substanzieller Fortschritt wäre nur die Anerkennung des Kosovo durch Serbien. Zu diesem Schritt sind die Serben aber noch nicht bereit“, sagt Richter, die als Juniorprofessorin für International Conflict Management an der Willy Brandt School of Public Policy der Universität Erfurt forscht.

Kapitel 35 ist nicht der einzige Punkt, an dem Serbien arbeiten muss, wenn es in die EU will. Seit der Finanzkrise kam die Wirtschaft nicht wieder in Schwung, die Arbeitslosigkeit liegt offiziellen Angaben zufolge bei rund 18 Prozent, und die Privatisierung von Staatsunternehmen kommt nur schleppend voran. Dem Ministerpräsidenten Vucic wird zudem immer wieder vorgeworfen, dass er die Medien kontrolliert. Serbische Medienhäuser klagen, dass sie keine Anzeigen mehr bekommen, nachdem sie regierungskritische Artikel veröffentlicht haben. Journalisten werden in dem Balkanland verbal und körperlich bedroht.

Politische Beobachter sagen, dass Selbstzensur ein riesiges Problem ist. Die Opposition moniert, dass sie kaum Chancen hat, in serbischen Medien überhaupt zu Wort zu kommen. Auch Brüssel kritisiert im jüngsten Fortschrittsbericht die mangelhafte Pressefreiheit. Lob gab es dagegen für den Umgang Serbiens mit den Flüchtlingen. „Das Land hat erhebliche Anstrengungen geleistet, um sicherzustellen, dass sie Unterkunft und humanitäre Hilfsgüter bekommen“, heißt es im Bericht.

Der Anwärter
Foto: Stefan Hantzschm

Klagen über die Versorgung in Serbien hört man auch von den Flüchtlingen in Principovac nicht. „Es ist gut hier, besser als in Bulgarien. Dort haben mich Polizisten geschlagen und ausgeraubt“, sagt Karo. „Zum Ausruhen, sich frisch machen und um sich für den weiteren Weg vorzubereiten, ist es doch gar nicht so schlecht hier, oder?“, sagt Ivan Miškovic, Sprecher der serbischen Kommission für Flüchtlinge und Migration. Rund 80 Flüchtlinge sind es an diesem Tag, die versorgt werden. Sie teilen sich ein Bad mit vier Toiletten, zwei Duschen und fünf Waschbecken. In der Hochphase sind in Principovac 300 Menschen an einem Tag angekommen. Draußen, ein paar Meter neben den Zelten, liegen sieben blaue Pakete. Aus jeder Box kann eine Sanitärstation mit jeweils zwei Duschen und zwei Toiletten aufgebaut werden. Ausgepackt hat sie noch niemand.