Berlin

Corona-Vollmachten im Hauruckverfahren: Infektionsschutzgesetz wird an einem Tag durchgepeitscht – Das löst Proteste aus

Von Gregor Mayntz, Kerstin Münstermann

Ende Oktober lehnte sich Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus noch weit aus dem Fenster. Der Bundestag sei bei den Corona-Regelungen ausreichend beteiligt, Änderungen seien vorerst nicht nötig, sagte der CDU-Politiker kraftvoll in der Debatte über die Regierungserklärung der Kanzlerin. Doch der Druck aus allen Parteien und auch von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) persönlich war stärker: Heute wird es eine Novelle des Infektionsschutzgesetzes geben, in dem der Bundestag die bisherigen weitgehenden Blankovollmachten für den Gesundheitsminister und die Länder in präzise Vorgaben verändert und die Berichtspflicht der Regierung ans Parlament ausbaut. Das Problem: Union und SPD pauken das Gesetz im Eilverfahren durch.

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Erst vor zwei Wochen hatten sich Union und SPD verständigt, in welcher Form sie „Formulierungshilfen“, wie sie von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) aufgeschrieben worden waren, als Entwurf in den Bundestag einbringen wollen. Am vergangenen Donnerstag konnten sich die Fachausschüsse damit auseinandersetzen. Weil bei den Beratungen noch Bedenken aufgetaucht waren, schoben Union und SPD am Montag zahlreiche Änderungen nach und lehnten es ab, den Ausschüssen für die nochmalige Beratung mehr Zeit einzuräumen. Stattdessen soll es heute bereits die abschließende Debatte und Abstimmung geben, der Bundesrat tritt ebenfalls zusammen, sodass der Bundespräsident das Gesetz noch am selben Tag unterschreiben kann.

Von Tausenden E-Mails überflutet

Die Eile steht einer breiten Debatte in der Öffentlichkeit entgegen. Abgeordnete berichteten, sie würden von Tausenden E-Mails überflutet, in denen vor einem neuen „Ermächtigungsgesetz“ wie zu Beginn der NS-Zeit gewarnt werde. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte, allein sein Büro habe bis zum Vormittag etwa 37.000 solcher Mails erhalten. Die überwiegende Mehrzahl sei gleichlautend mit identischen Textstellen. Wer dahinterstecke, könne man nicht klären. Es gebe auch Anrufe in Abgeordnetenbüros etwa aus dem Wahlkreis, bei denen Menschen Falschinformationen aufgesessen seien, sagte Dobrindt. „Ich sehe die Änderungen im Infektionsschutzgesetz kritisch, aber dieser gefährliche Unsinn über ein angebliches Ermächtigungsgesetz und das absichtliche Missverstehen machen mich sehr betroffen“, schrieb dazu der FDP-Politiker Konstantin Kuhle beim Kurznachrichtendienst Twitter.

Die Koalition hat sich zu diesem Tempo entschlossen, um eine bessere Grundlage für die in der nächsten Woche erwarteten Verschärfungen der Corona-Auflagen in Händen zu haben. Gerichte hatten etliche Freiheitseinschränkungen wieder aufgehoben – unter anderem unter Hinweis darauf, dass die gesetzliche Grundlage fehle.

So gibt es einen Katalog von Maßnahmen, die zur Pandemie-Eindämmung ergriffen werden können: Ausgangs-, Kontakt- und Reisebeschränkungen für den öffentlichen und den privaten Raum, die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, das Schließen von Übernachtungsangeboten, Gaststätten und Geschäften des Groß- und Einzelhandels sowie Verkaufs- und Konsumverbote für Alkohol auf bestimmten Plätzen. Weitere Punkte betreffen digitale Meldungen bei Einreisen aus ausländischen Risikogebieten, Unterstützungen für Eltern, deren Kinder in Quarantäne müssen, differenziertere Ausgleichszahlungen für Kliniken mit Reserveintensivbetten und die Details der Arbeit in den Impfzentren, die ab Mitte Dezember einsatzfähig sein sollen.

Verfassungswidrigkeit befürchtet

Die von Gerichten monierte fehlende Abwägung findet sich auch im Gesetz mit der Vorgabe, dass bei den einschränkenden Maßnahmen nicht allein der Gesundheitsschutz betrachtet werden dürfe, sondern dass auch „soziale und wirtschaftliche Aspekte abzuwägen“ seien. Ein größeres Hindernis wird bei Einschränkungen der Religionsausübung und des Demonstrationsrechtes festgelegt. In diese dürfe nur eingegriffen werden, wenn „keine anderen Möglichkeiten“ gegeben seien, dem Infektionsschutz Rechnung zu tragen.

Der Hotel- und Gaststättenverband Dehoga sagte bereits voraus, dass das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben wird, weil Entschädigungsregelungen fehlen. Diese sind in vielen Grundgesetzartikeln für den Fall von Einschränkungen von Grundrechten vorgeschrieben. Auch der FDP-Pandemieexperte Andrew Ullmann kritisierte, dass sich das Gesetz bei den die Maßnahmen auslösenden Fixpunkten ausschließlich auf Infiziertenzahlen pro 100.000 Einwohner bezieht. Das sei unzureichend und werde der Sache nicht gerecht. Ullmann sieht die „Gefahr, dass die Änderungen im Infektionsschutzgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht nicht Bestand haben werden“. Dies würde dann „einen großen Schaden für die Pandemiebekämpfung bedeuten“, sagte er unserer Zeitung. Gregor Mayntz/Kerstin Münstermann

Vizechef der Polizeigewerkschaft zu Hygienedemos: Der Staat soll vorgeführt werden

Die Gegner der Corona-Auflagen machen wieder mobil: Sie wollen den Bundestag davon abbringen, die Novelle des Infektionsschutzgesetzes zu beschließen. Für heute sind in Berlin mehrere Demos angemeldet – von Gegnern der Corona-Einschränkungen wie den „Querdenkern“ und von Gegendemonstranten. Mehrere geplante Kundgebungen vor dem Bundestag dürfen aber nicht stattfinden.

Das Bundesinnenministerium lehnte zwölf Anträge auf Zulassung von Versammlungen in der Umgebung von Bundestag und Bundesrat ab. Der Polizei und ihren Gewerkschaftsvertretern wird das recht sein. Ihnen hat die Debatte im Nachgang der Leipziger Hygienedemo zugesetzt. Leipzig zeigt laut dem Vizechef der Gewerkschaft der Polizei, Jörg Radek, dass solche Großdemos nicht nur eine polizeiliche Aufgabe darstellen. Die Polizei habe angeboten, die Demonstration auf das Messegelände zu verlegen. Dort hätten die Teilnehmer gezählt werden können, um auch das Abstandsgebot zu wahren. Das hätten die Anmelder nicht gewollt, und die Gerichte seien ihnen gefolgt. In der Innenstadt seien die Auflagen dann aber nicht einzuhalten gewesen. Die Gerichte müssten sich deshalb intensiver mit den „Querdenkern“ auseinandersetzen. „Natürlich können die Gerichte Auflagen formulieren, aber die sollten für die Polizei auch umsetzbar sein“, forderte Radek. „Mir fehlt im Nachgang solcher Demonstrationen die Ächtung derer, die gegen Recht und Ordnung verstoßen“, kritisierte Radek. Die Veranstalter wüssten genau, dass die Polizei unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit nur sehr schwer das Tragen der Masken durchsetzen könne. Man versuche, „die Versammlungsfreiheit zu missbrauchen, um mit Provokationen bestimmte Bilder zu erzeugen“. Gesucht werde das Bild von scheinbar friedlichen Demonstranten und massivem Polizeieinsatz. „Der Staat soll vorgeführt werden.“ Es sei bezeichnend, dass zur Infektionseindämmung auch kleinere Treffen untersagt würden, zugleich aber solche Veranstaltungen mit mehreren Zehntausend Menschen stattfinden dürften und damit die Polizisten automatisch in Mitleidenschaft gezogen würden. Es muss sich nach den vielen, ähnlich verlaufenen Hygienedemos eine Menge angestaut haben bei den Polizeibeamten. „Wer die Versammlungsfreiheit, die auch unter Auflagen gewährleistet werden soll, vorsätzlich missbraucht, ist kein Freund der Demokratie. Dieser Staat, der sich durch die Polizei zeigt, soll destabilisiert werden“, sagt Radek.    Gregor Mayntz
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