Corona-Vollmachten im Hauruckverfahren: Infektionsschutzgesetz wird an einem Tag durchgepeitscht – Das löst Proteste aus
Erst vor zwei Wochen hatten sich Union und SPD verständigt, in welcher Form sie „Formulierungshilfen“, wie sie von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) aufgeschrieben worden waren, als Entwurf in den Bundestag einbringen wollen. Am vergangenen Donnerstag konnten sich die Fachausschüsse damit auseinandersetzen. Weil bei den Beratungen noch Bedenken aufgetaucht waren, schoben Union und SPD am Montag zahlreiche Änderungen nach und lehnten es ab, den Ausschüssen für die nochmalige Beratung mehr Zeit einzuräumen. Stattdessen soll es heute bereits die abschließende Debatte und Abstimmung geben, der Bundesrat tritt ebenfalls zusammen, sodass der Bundespräsident das Gesetz noch am selben Tag unterschreiben kann.
Von Tausenden E-Mails überflutet
Die Eile steht einer breiten Debatte in der Öffentlichkeit entgegen. Abgeordnete berichteten, sie würden von Tausenden E-Mails überflutet, in denen vor einem neuen „Ermächtigungsgesetz“ wie zu Beginn der NS-Zeit gewarnt werde. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte, allein sein Büro habe bis zum Vormittag etwa 37.000 solcher Mails erhalten. Die überwiegende Mehrzahl sei gleichlautend mit identischen Textstellen. Wer dahinterstecke, könne man nicht klären. Es gebe auch Anrufe in Abgeordnetenbüros etwa aus dem Wahlkreis, bei denen Menschen Falschinformationen aufgesessen seien, sagte Dobrindt. „Ich sehe die Änderungen im Infektionsschutzgesetz kritisch, aber dieser gefährliche Unsinn über ein angebliches Ermächtigungsgesetz und das absichtliche Missverstehen machen mich sehr betroffen“, schrieb dazu der FDP-Politiker Konstantin Kuhle beim Kurznachrichtendienst Twitter.
Die Koalition hat sich zu diesem Tempo entschlossen, um eine bessere Grundlage für die in der nächsten Woche erwarteten Verschärfungen der Corona-Auflagen in Händen zu haben. Gerichte hatten etliche Freiheitseinschränkungen wieder aufgehoben – unter anderem unter Hinweis darauf, dass die gesetzliche Grundlage fehle.
So gibt es einen Katalog von Maßnahmen, die zur Pandemie-Eindämmung ergriffen werden können: Ausgangs-, Kontakt- und Reisebeschränkungen für den öffentlichen und den privaten Raum, die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, das Schließen von Übernachtungsangeboten, Gaststätten und Geschäften des Groß- und Einzelhandels sowie Verkaufs- und Konsumverbote für Alkohol auf bestimmten Plätzen. Weitere Punkte betreffen digitale Meldungen bei Einreisen aus ausländischen Risikogebieten, Unterstützungen für Eltern, deren Kinder in Quarantäne müssen, differenziertere Ausgleichszahlungen für Kliniken mit Reserveintensivbetten und die Details der Arbeit in den Impfzentren, die ab Mitte Dezember einsatzfähig sein sollen.
Verfassungswidrigkeit befürchtet
Die von Gerichten monierte fehlende Abwägung findet sich auch im Gesetz mit der Vorgabe, dass bei den einschränkenden Maßnahmen nicht allein der Gesundheitsschutz betrachtet werden dürfe, sondern dass auch „soziale und wirtschaftliche Aspekte abzuwägen“ seien. Ein größeres Hindernis wird bei Einschränkungen der Religionsausübung und des Demonstrationsrechtes festgelegt. In diese dürfe nur eingegriffen werden, wenn „keine anderen Möglichkeiten“ gegeben seien, dem Infektionsschutz Rechnung zu tragen.
Der Hotel- und Gaststättenverband Dehoga sagte bereits voraus, dass das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben wird, weil Entschädigungsregelungen fehlen. Diese sind in vielen Grundgesetzartikeln für den Fall von Einschränkungen von Grundrechten vorgeschrieben. Auch der FDP-Pandemieexperte Andrew Ullmann kritisierte, dass sich das Gesetz bei den die Maßnahmen auslösenden Fixpunkten ausschließlich auf Infiziertenzahlen pro 100.000 Einwohner bezieht. Das sei unzureichend und werde der Sache nicht gerecht. Ullmann sieht die „Gefahr, dass die Änderungen im Infektionsschutzgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht nicht Bestand haben werden“. Dies würde dann „einen großen Schaden für die Pandemiebekämpfung bedeuten“, sagte er unserer Zeitung. Gregor Mayntz/Kerstin Münstermann