Kastellauner Band „Handycaps“: Menschen mit und ohne Behinderung musizieren gemeinsam

In der Kastellauner Band Handycaps musizieren Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam – und das seit 15 Jahren. Nach dem großen Konzert zum Geburtstag im September wartete nun der nächste Höhepunkt: das Krippenspiel.

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Von unserer Redakteurin Martina Koch

Die ersten Töne des Hits „Ich bin ich“ sind noch nicht verklungen, da hält es Katharina Frauenberger schon nicht mehr auf ihrem Stuhl. Die zierliche Frau mit dem grauen Wuschelkopf springt auf, klatscht im Takt, den die Rhythmusgruppe vorgibt, und wiegt ihren Körper zur Musik. Sie bewegt sich mit einem Enthusiasmus, dass man meinen könnte, man sei im Berliner Olympiastadion, und auf der Bühne stünde das Duo Rosenstolz, das den Song geschrieben hat. Tatsächlich lauscht Katharina Frauenberger den Handycaps, der Hausband der Rhein-Mosel-Werkstatt (RMW) in Kastellaun, die sich an diesem grauen Dezembervormittag in einem schmucklosen Mehrzweckraum zur wöchentlichen Probe versammelt hat.

Die Handycaps, das sind 21 Hobbymusiker im Alter von 16 bis 63 Jahren mit unterschiedlichen körperlichen und/oder geistigen Beeinträchtigungen sowie die beiden Profis Heiner Kochhan und Herbert Kleinschmidt von der Kreismusikschule Rhein-Hunsrück. Dass sie zusammengefunden haben und gemeinsam bereits viele Konzertsäle im Hunsrück und darüber hinaus füllten, haben sie Petra Bernatzki zu verdanken. Die Mitarbeiterin im Sozialen Dienst der RMW hatte vor 15 Jahren die Idee zur Gründung dieser besonderen Band. Sie knüpfte auch den Kontakt zu den Berufsmusikern von der Kreismusikschule. Eine spezielle Schulung hatten Kochhan und Kleinschmidt im Vorfeld nicht. In enger Zusammenarbeit mit Bernatzki, die die Musiker pädagogisch begleitet, legten sie im August 2000 mit acht Bandmitgliedern los.

Inzwischen sind die Handycaps zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen: „Bitteschön, Herr Hartmann“, sagt Kochhan und reicht einem jungen Mann mit Bayern-München-Kappe und passendem Fan-T-Shirt ein paar Bongos – nicht ohne kurz über die erste Saisonniederlage des Fußballrekordmeisters zu plaudern. Danach konzentrieren sich alle auf die Musik, denn der nächste große Auftritt steht unmittelbar bevor: Die Handycaps sorgen für die musikalische Umrahmung des Krippenspiels der RMW-Betriebsstätte in der evangelischen Kirche Kastellaun. „Mitten in der Nacht“ von Rolf Zuckowski steht auf dem Programm. „Das ist ein schwerer Titel für uns“, gibt Bernatzki zu.

Konzentriert mustert Kristina Johann, deren klare Stimme besonders gut zur Geltung kommt, wenn sie gefühlvolle Balladen singt, die Notenblätter. Die Melodie des Weihnachtslieds ist für sie neu, die ersten Versuche, den Titel am Stück zu singen, scheitern. Die junge Frau mit dem sorgfältig geföhnten rotblonden Haar ist sichtlich unzufrieden. Während die restlichen Bandmitglieder in die Pause gehen, bleibt sie mit den Musiklehrern im Probenraum und übt weiter.

„Die Leute sind schon alle sehr ehrgeizig. Man spürt ihren großen Willen, es gut zu machen“, erzählt Petra Bernatzki. Da gibt es dann auch mal lange Gesichter, wenn eine andere Sängerin bei einem bestimmten Lied zum Zuge kommt. „Das ist wie im richtigen Leben!“, schmunzelt Bernatzki.

Bei der Besetzung der Handycaps haben sich die Berufsmusiker Kochhan, der den Bass spielt, und Kleinschmidt, der zu Saxofon und Querflöte greift, auf die Talente der Bandmitglieder eingestellt: Die drei Gitarren sind auf unterschiedliche Tonarten gestimmt, um den Hobbymusikern das Spiel zu erleichtern. Tobias Behrensmeyer bedient sein E-Piano einhändig, das ermöglicht es ihm, die passenden Akkorde zu greifen. Ansonsten besteht die Band vor allem aus einer großen Rhythmusgruppe mit Schellen, Klanghölzern, Trommeln und Schlagwerk.

Wenn die Rhythmusgruppe loslegt, bebt der Boden des Probenraums. Mit purer Begeisterung lassen die Hobbymusiker für den Moment ihre angestaute Energie frei. Das klingt wild, ungestüm und stößt nicht bei jedem Bandmitglied auf Gegenliebe: „Sie spielen oft sehr laut, dann hört man den Gesang kaum. Das sollte stimmungsvoller klingen“, seufzt Kristina Johann, die sich mit ihrer zarten Stimme im Getöse der 20-köpfigen Kombo behaupten muss. Die junge Frau ist im Hunsrück aufgewachsen und sang in ihrer Heimatgemeinde bereits in einer Jugendband. Den Auftritt auf der großen Bühne scheut sie nicht, „aber meine Hände beginnen davor immer zu schwitzen“.

Allzu großes Lampenfieber können die Handycaps sich nicht leisten. Spielten sie zu Beginn ausschließlich bei internen Veranstaltungen der RMW, kamen später schnell Auftritte in den großen Veranstaltungssälen im Hunsrück, im Mainzer Sozialministerium oder bei der Bundesgartenschau in Koblenz dazu. Auch im Fernsehen waren die Handycaps bereits zu sehen: Sie machten im Dezember 2012 in dem Video „Last Christmas“ mit. Die Band kann inzwischen längst nicht mehr alle Anfragen zu Auftritten annehmen, da der Aufwand für An- und Abreise sowie Betreuung bei den Handycaps sonst zu groß wäre.

In 15 Jahren Bandgeschichte feierten die Handicaps viele Erfolge, mussten aber auch mit Schicksalsschlägen fertig werden. Im April 2012 verstarb die charismatische Sängerin Gemma Cipani. Die Erinnerung an den Verlust ist bei vielen Bandmitgliedern noch ganz frisch – gerade in der Adventszeit: „,Feliz Navidad' das hat Gemma immer zu Weihnachten gesungen!“, erzählt Tobias Behrensmeyer, ein Bandmitglied der ersten Stunde. Nach Gemmas Tod habe man erst ans Aufhören gedacht, sich dann aber zum Weitermachen entschlossen – aus Liebe zur Musik und zur besonderen Gemeinschaft, die die Handycaps bilden.

Behrensmeyer kommt wie viele Bandmitglieder aus einer musikalischen Familie, lernte Klavier und Flöte spielen und singt im Kirchenchor. „Musik ist Freude, das ist Leben. Besonders zur Weihnachtszeit ist das schön“, schwärmt er. Auch Katharina Frauenberger, die zu Beginn der Probe so begeistert mittanzte, ist mit dem Herzen dabei, wenn die Handycaps musizieren. Sie verstärkt die Band als Sängerin, wenn eine kräftige Stimme gefragt ist. „Das ist ein Antikriegslied. Mehr sag ich dazu nicht“, kündigt sie an, als sie bei der Probe das Mikrofon ergreift.

Heiner Kleinschmidt spielt auf dem Saxofon die ersten Takte von „Sag mir, wo die Blumen sind“ und Katharina Frauenberger stimmt mit Inbrunst die deutsche Fassung des Kultsongs an, den einst der US-amerikanische Sänger Pete Seeger komponierte. Nicht nur beim Tanzen, auch beim Singen ist sie mit vollem Körpereinsatz dabei: Das Mikrofon fest im Griff, beugt sie sich wie ein Rockstar mal weit vor zu ihren Fans, mal streckt sie sich zur Decke, dabei schließt sie, ganz in die Musik versunken, die Augen. Selten klang eine Antikriegserklärung leidenschaftlicher.

„Unsere beiden Sängerinnen sind richtige Diven. Beide auf ihre Art“, merkt Petra Bernatzki mit einem verschmitzten Lächeln an. Darin unterscheiden sie sich kaum von den Frontfrauen anderer Bands. Katharina Frauenberger hat ein großes politisches Sendungsbewusstsein und teilt dem Publikum bei den Auftritten der Handycaps gern mit, was ihr zur aktuellen Weltlage auf dem Herzen liegt. Das gehört bei den Konzerten unbedingt dazu, erklärt sie: „Ich bin der Meinung, durch Kommunikation kommt man sich näher.“

Das musikalische Talent habe sie von ihrem Großvater, einem ausgebildeten Musiker mit eigenem Orchester, erzählt sie weiter. Früher sang sie in einem katholischen Jugendchor und jetzt seit fünf, sechs Jahren bei den Handycaps. „Dass es hier Menschen gibt, die uns helfen, damit wir zeigen können, was in uns steckt“, dafür ist sie dankbar. „In regulären Musikvereinen wäre es für viele unserer Musiker schwierig“, sagt auch Petra Bernatzki. „Hier bei uns kommen sie groß raus.“ Während die Rhythmusgruppe lautstark den Takt vorgibt, Tobias Behrensmeyer am E-Piano in die Tasten greift und Heiner Kochhan als Background in das Antikriegslied mit einstimmt, lässt sie zufrieden den Blick durch den Probenraum schweifen. „Es wird ja immer viel über Inklusion geschrieben. Das ist Inklusion.“

Die Rhein-Mosel-Werkstatt Mit Betriebsstätten in Koblenz, Weißenthurm, Kastellaun und Simmern bietet die Rhein-Mosel-Werkstatt (RMW) als gemeinnützige GmbH mehr als 800 geistig und körperlich behinderten sowie psychisch erkrankten Menschen einen Ausbildungs- beziehungsweise Arbeitsplatz. Zu den Auftraggebern gehören Industrie- und Handwerksbetriebe, Verwaltungen und Privatkunden.

Die Handycaps Die Band der Betriebsstätte Kastellaun wurde am 1. August 2010 als Kooperation der RMW und der Kreismusikschule Rhein-Hunsrück gegründet. RMW-Mitarbeiter musizieren dort gemeinsam mit den Musiklehrern Heiner Kochhan und Herbert Kleinschmidt. Die Handycaps treten vier- bis sechsmal im Jahr auf.