Moskau

Himmlers Dienstkalender: Aus dem Alltag eines Massenmörders

Aus dem Alltag eines Massenmörders Foto: dpa

Im akkuraten Dienstkalender von Heinrich Himmler mischen sich Politik und Banales, Privatleben und der Tod von Millionen Menschen. „Essen im Kasino der Sicherheitspolizei, Besprechung mit Oberst, Fahrt durch das Getto“, heißt es über einen Besuch des mächtigen SS-Führers am 9. Januar 1943 im Warschauer Getto. Dort hatten die Nationalsozialisten Hunderttausende polnische Juden eingepfercht. Das Deutsche Historische Institut (DHI) Moskau stieß in einem Archiv auf die jahrzehntelang verschollenen Kalender.

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Von Friedemann Kohler

Der Reichsführer SS, so Himmlers offizieller Titel, gilt Historikern im Machtgefüge der Nationalsozialisten als zweiter Mann hinter Adolf Hitler. Himmler (1900-1945) war Organisator der Konzentrationslager, ein Architekt des deutschen Vernichtungsfeldzuges in Osteuropa, des Massenmords an den europäischen Juden.

Für Historiker wertvolle Dokumente

Seine Dienstkalender für die Jahre 1943/44 galten über Jahrzehnte als verschollen. Doch die historisch wichtigen Dokumente haben als sowjetisches Beutegut im Zentralarchiv des russischen Verteidigungsministeriums (Camo) in Podolsk bei Moskau überlebt. Es sind etwa 1000 Seiten, mit der Schreibmaschine geschrieben, die fast 1600 Namen enthalten. „Wir können jetzt genau sagen, an welchem Tag sich Himmler zwischen 1943 und 1944 mit wem getroffen hat, an welchen Orten er weilte, und wer zu seinem engsten Machtzirkel gehörte“, sagte DHI-Historiker Matthias Uhl. Für den Leiter des Moskauer Instituts, Prof. Nikolaus Katzer, hilft der Kalender, „bestimmte Entscheidungsvorgänge, bestimmte Personenkonstellationen im NS-Regime genau zu rekonstruieren“. Das sei ein großer Zugewinn für die Forschung, sagte er. Gerade aus der zweiten Kriegshälfte, als Hitlerdeutschland in die Niederlage steuerte, sind nur wenige Akten erhalten. Viele Dokumente fielen der Roten Armee beim Vormarsch auf Berlin in die Hände. Himmlers Dienstkalender für die Weltkriegsjahre 1941/42 wurden 1991 ebenfalls in einem russischen Archiv entdeckt.

Die deutschen Historiker in Moskau arbeiten mit dem Militärarchiv Camo zusammen, weil dort etwa 2,5 Millionen Blatt Akten der deutschen Wehrmacht liegen. Sie werden in einem deutsch-russischen Projekt digitalisiert und ins Internet gestellt. Die ersten Hinweise auf die Himmler-Kalender 1943/44 hat es 2010 gegeben, berichtet Uhl. Seit 2013 sind sich die Forscher sicher, dass die Kalender echt und vollständig sind. Uhl und Prof. Dieter Pohl aus Klagenfurt (Österreich) wollen den Fund bis Ende 2017 in zwei Bänden mit Kommentaren veröffentlichen. Die dürren täglichen Einträge müssen erst zum Sprechen gebracht werden. Jeder Name, jedes Treffen muss mit anderen Quellen abgeglichen werden, daraus ergeben sich mögliche Gesprächsthemen und Entscheidungen Himmlers.

So dürfte es bei dem Besuch in Warschau 1943 um die Auflösung des Gettos gegangen sein. Wenige Tage später leisteten die Juden erstmals bewaffnet Widerstand gegen ihre Deportation in die Vernichtungslager. Im April brach im Getto schließlich ein großer Aufstand aus, den SS und Wehrmacht brutal niederschlugen.

Aus dem Alltag eines Massenmörders
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Anrufe bei „Mami“ und „Püppi“

Neben diesem Alltag eines Massenmörders gewinnt in den nüchternen Daten auch der Privatmann Himmler Kontur. Der magenkranke SS-Führer ließ sich oft von Leibarzt Felix Kersten massieren. Regelmäßig standen Anrufe bei „Mami und Püppi“ im Kalender, berichtet die „Bild“. Das sind Frau Margarete und Tochter Gudrun in der Heimat im oberbayerischen Gmund am Tegernsee. Daneben hatte Himmler ein Verhältnis und zwei Kinder mit seiner Ex-Sekretärin Hedwig Potthast. Die Forscher vermuten, dass diese Treffen mit den unverfänglichen, aber häufigen Einträgen wie „Inspektion“ oder „unterwegs“ getarnt wurden.

Vor allem war der SS-Führer ein gerissener Netzwerker. „Besonders beeindruckt die Vielzahl der Kontakte und wie Himmler versucht, über die SS auf wichtige Instanzen in Partei, Staat, Militär und Wirtschaft zuzugreifen“, sagt Uhl.

Für Prof. Katzer ist das ungerührte Nebeneinander von Privatem und mörderischen Befehlen das Erschreckende an dem Dokument. „Das ist eine Monstrosität, die sich da zeigt“, sagt er. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges sei Himmlers Feigheit offen zutage getreten. Der Hauptakteur des NS-Terrors streckte einige vergebliche Friedensfühler aus, floh dann unter falschem Namen und brachte sich am 23. Mai 1945 in britischer Gefangenschaft um.