Sinzig

Medizinskandal Contergan: Niemand hat sich je entschuldigt

Bianca Vogel ist ständig auf Hilfe angewiesen. Beim Haare kämmen, beim Anziehen, beim Aufsteigen aufs Pferd. Die weltweit erfolgreiche Dressurreiterin aus Sinzig im Kreis Ahrweiler ist wie heute noch etwa 2700 weitere Menschen in Deutschland Opfer des größten Arzneimittelskandals der Nachkriegsgeschichte.

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Von unserer Redakteurin Rena Lehmann

Sinzig – Bianca Vogel ist ständig auf Hilfe angewiesen. Beim Haare kämmen, beim Anziehen, beim Aufsteigen aufs Pferd. Die weltweit erfolgreiche Dressurreiterin aus Sinzig im Kreis Ahrweiler ist wie heute noch etwa 2700 weitere Menschen in Deutschland Opfer des größten Arzneimittelskandals der Nachkriegsgeschichte.
Ohne Arme und mit schweren Hüftschäden kam sie am 24. Februar 1961 zur Welt, nachdem ihre Mutter während der Schwangerschaft das damals noch als unbedenklich geltende Schlafmittel Contergan eingenommen hatte. Den politischen Kampf für eine angemessene Entschädigung nahm Bianca Vogel jedoch erst vor wenigen Jahren auf.

Keine Kränze, kein Gedenken

Dann erst, mit Mitte 40, wurde sie „innerlich richtig wütend“. Darüber, dass der Prozess am 18. Dezember 1970, vor 40 Jahren, wegen „Geringfügigkeit“ eingestellt wurde. Darüber, dass sich „weder der Staat noch der Hersteller Grünenthal entschuldigt haben“. Darüber, dass es für die verstorbenen Contergan-Geschädigten keine Gedenkveranstaltungen gibt und keine Kränze niedergelegt werden. Vor allem aber darüber, dass sie mehr und mehr unter Folgeschäden ihrer Missbildungen leidet, sich aber mit knapp 1100 Euro Entschädigung im Monat keine ständige Hilfe leisten kann. „Mein Körper ist zerschlissen“, sagt sie. „Ich werde älter.“ Durch die ständige Fehlhaltung verforme sich der Rücken. Das bereitet der 49-Jährigen zunehmend Schmerzen.

Sie engagiert sich deshalb jetzt auch im nordrhein-westfälischen Interessenverband Contergan-Geschädigter, ist dort zweite Vorsitzende, fährt zu Demonstrationen, klärt junge Menschen über das Geschehene auf. Ihr Ziel und das ihrer Mitstreiter: mit Grünenthal und dem Staat auf Augenhöhe über eine tatsächlich angemessene Entschädigung verhandeln. „Ich bin überzeugt, dass wir Erfolg haben, die Frage ist nur, wann“, meint sie. In Großbritannien etwa erhielten Geschädigte oft das Vierfache der in Deutschland gezahlten Summen. „Bei uns ist dagegen kein selbstbestimmtes Leben in Würde möglich.“ Sie sei stets auf freundliche, hilfsbereite Menschen angewiesen. „Mein ganzes Leben besteht aus Absprachen.“

Der 18. Dezember 1970 hatte aus Bianca Vogels Sicht verheerende Folgen. Man habe sich damals dafür entschieden, die Arbeitsplätze bei Grünenthal zu schützen. „Das war falsch“, ist sie überzeugt. Die Missbildungen vieler Tausend Menschen wiegen aus ihrer Sicht schwerer als die Existenz eines Unternehmens. Man habe die Eltern damals zwar zunächst finanziell entschädigt, sonst aber komplett alleingelassen. Keine psychologische Betreuung, keine sonstige Nachsorge.

Ein „normales“ Leben

Bianca Vogel wusste zwar immer um die Umstände ihrer Behinderungen, für sie stand der Wunsch nach einem normalen Leben zunächst aber im Vordergrund. Sie machte eine Ausbildung zur Erzieherin, geht bis heute einer geregelten Arbeit nach und erfüllte sich ihren Traum vom Spitzenreitsport. Wenn es ihre Gesundheit zulässt, will sie „im nächsten Jahr noch einmal angreifen“, sich für die Europameisterschaft qualifizieren und sich danach bei den Paralympischen Spielen in London „würdevoll“ aus dem Spitzensport verabschieden. „Das wäre ein Traum.“